Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die letzte große Schlacht in Syrien beginnt

Großangrif­f auf Idlib wird in den kommenden Wochen erwartet – Appell der UN an die Türkei

- Von Thomas Seibert

ISTANBUL - Spätestens seit vor einigen Tagen Tausende Flugblätte­r aus Hubschraub­ern auf sie herab flatterten, wissen die Menschen in der nordwest-syrischen Provinz Idlib, was ihnen blüht. „Der Krieg neigt sich seinem Ende zu“, stand auf den Zetteln, wie Aktivisten berichten. Die Zeit der Versöhnung sei gekommen, hieß es weiter – gemeint war das Gegenteil: Die syrische Regierung ließ die Bewohner von Idlib mit den Flugblätte­rn wissen, dass eine Großoffens­ive der Armee mit russischer und iranischer Hilfe bevorsteht. In Syrien beginnt die letzte große Schlacht.

Mehr als sieben Jahre nach Ausbruch der Proteste gegen die Herrschaft von Präsident Baschar al-Assad 2011 steht die Regierung in Damaskus vor dem militärisc­hen Sieg über die Rebellen. Idlib ist die einzige Region Syriens, die noch von den Rebellen kontrollie­rt wird. Im Westen hat Assad überall die Oberhand, der Osten von Syrien wird von den mit den USA verbündete­n Kurden beherrscht, die wohl kein Angriffszi­el für Assad bilden werden: Vertreter der Kurden verhandeln mit der Regierung über eine Autonomier­egelung für ihre Volksgrupp­e. In Idlib haben sich mehrere Millionen Zivilisten sowie Zehntausen­de Kämpfer nach Niederlage­n der Assad-Gegner in anderen Landesteil­en in Sicherheit gebracht. Beherrsche­nde Kraft in Idlib ist die radikal-islamische Miliz HTS, die Al Kaida nahesteht.

Fast 70 Menschen getötet

Wie bei den anderen Regierungs­offensiven der jüngsten Zeit begann die Vorbereitu­ng auf die Schlacht von Idlib mit Luftangrif­fen und Artillerie­beschuss. Bei der Explosion eines Waffenlage­rs von Aufständis­chen in Syrien sind in Sarmada 69 Menschen, darunter 17 Kinder und 14 Frauen, getötet worden. Doch der Großangrif­f, der in den kommenden Wochen erwartet wird, dürfte sich schwierige­r gestalten als andere Offensiven. Die Türkei hat in Idlib zwölf Beobachtun­gsposten aufgebaut und rund tausend Soldaten stationier­t. Pro-türkische Milizen und ein Teil der Bevölkerun­g hoffen, dass Ankaras Truppen sie gegen Assad, die Russen und die Iraner beschützen werden. Noch ein anderer wichtiger Faktor ist anders in Idlib: Bisher konnten zivile AssadGegne­r und Rebellenkä­mpfer stets nach Idlib ausweichen – jetzt gibt es keine Fluchtmögl­ichkeit in Syrien mehr. Zudem hat die Türkei ihre Grenze geschlosse­n. Die Vereinten Nationen rufen Ankara auf, die Flüchtling­e trotzdem ins Land zu lassen.

Die türkische Regierung hat jedoch offenbar andere Pläne. Präsident Recep Tayyip Erdogan deutete an, dass türkische Truppen weitere Gebiete in Syrien unter ihre Kontrolle bringen könnten, um Flüchtling­en eine Zuflucht zu bieten. Seit 2016 hat Ankara dies bereits in zwei anderen Gegenden Nordsyrien­s vorexerzie­rt: in Afrin, einer Nachbargeg­end von Idlib, und im weiter östlich gelegenen Jarablus. Dort sind nach türkischen Regierungs­angaben inzwischen mehrere Hunderttau­send Syrer angesiedel­t worden, die vor dem Krieg in die Türkei geflohen waren.

Neue türkische Vorstöße in Syrien dürften allerdings bei Russland auf heftige Kritik stoßen. Ankara ist laut Regierungs­angaben mit Moskau im Gespräch, um eine Lösung für Idlib zu finden. Medienberi­chten zufolge versucht die Türkei bisher vergeblich, die Extremiste­ntruppe HTS aufzulösen, um den Großangrif­f auf Idlib doch noch zu verhindern oder zumindest mehr Zeit zu gewinnen. Russland soll den Türken eine Frist bis September eingeräumt haben – dass Ankara bis dahin die Islamisten zur Aufgabe überreden kann, ist aber unwahrsche­inlich: Alle Zeichen deuten auf noch mehr Gewalt in Syrien.

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FOTO: DPA Bei der Explosion in Sarmada wurde ein fünfstöcki­ges Gebäude zerstört.

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