Zwischen Himmel und Erde
Eine heilende Linde, die Grabstätte eines „Schnullerheiligen“und ein Kreuz im Rasen: die mysteriösesten Orte Oberschwabens
RAVENSBURG - Ihre Wurzeln sind fest mit dem Boden verwachsen, die Äste ragen weit in den Himmel hinauf. Die Linde am Rand eines verlassenen Waldstücks bei Ratzenried bei Wangen scheint alle umliegenden Bäume zu überragen. Der gewaltige Baumstamm ist durch einen breiten Spalt geteilt. Gerade schulterbreit ist das Loch im Bauminneren. Die Linde sieht nicht nur imposant aus, sie soll auch magische Wirkung haben und heilen können. Das besagt eine Ratzenrieder Überlieferung. „Wer sich durch das Loch im Baum zwängt, soll seine Krankheiten abstreifen können“, sagt der Heimatforscher Berthold Büchele. 400 Jahre oder noch älter sei dieser besondere Baum.
Bis in vorchristliche Zeit reicht der Aberglaube zurück, der besagt, dass man an Löchern in Bäumen oder Steinen Krankheiten abstreifen könne. „Böse Geister sollen vor Löchern Angst haben. So entstand wohl der Glaube, Böses durch Löcher abwenden zu können“, erklärt Büchele. Der Heimatforscher ist sich sicher, dass auch dieser Baum in der Vergangenheit zu diesem Zweck genutzt wurde. „Diese Linde ist ein kultischer Baum und etwas ganz Besonderes.“Noch heute suchen einige Menschen den Baum auf, um geheilt zu werden. Büchele betreibt seit vielen Jahren Heimatforschung. Glaubensvorstellungen wie diese gehen, sagt er, häufig auf heidnische Riten zurück. So wurden manche Opferriten, Magie oder Beobachtungen in der Natur zum Glauben und später zu Aberglauben erklärt.
„Viele dieser Vorstellungen haben sich in der Region Oberschwaben/Allgäu bis heute gehalten. Wandel und Modernisierungen gehen hier einfach langsamer voran als in städtisch geprägten Gegenden“, sagt Büchele. Im Landkreis Ravensburg sei deswegen vor allem das weniger dicht besiedelte württembergische Allgäu für den Erhalt von Riten und Aberglauben bekannt.
Wie von der Linde in Ratzenried erhofften sich auch vom Schäfer Habnit viele Menschen Heilung von Krankheiten. Der Dorfhirte lebte im 16. Jahrhundert in Neuwaldburg bei Waldburg und war für seine Heilkunst bekannt. „Weil er mit der Natur gelebt hat, kannte er sich gut mit Kräutern aus. Er war ein Heilkundler. Vor allem Kinder konnte er gut von Krankheiten heilen“, erzählt Alois Weber, Mesner in der Pfarrkirche St. Magnus in Waldburg.
Nach seinem Tod wurde dem Schäfer Habnit über seinem Grab auf dem Friedhof in Waldburg ein Grabhäuschen errichtet. Diese kleine Kapelle war ein magischer Ort für Eltern kranker Kinder. Sie kamen auf den Friedhof und ließen an der Stelle seines Grabes Kleidungsstücke oder einen Schnuller des kranken Kindes weihen. „Die Leute sind von überall her zum Grab des seligen Habnit gepilgert, haben zu ihm gebetet und die Hilfe Gottes für ihr Kind erbeten“, erklärt Weber. Oft seien die Kinder nach dem Segen des Habnits gesund geworden, sagt er. Ging es dem Kind besser, brachten die Eltern Kleidungsstücke der Kinder auf den Friedhof zu Habnits Grab. Auch unzählige Schnuller, früher Ditzen genannt, schmückten die Grabstätte. So kam Habnit zum Namen „Ditzenheiliger“. Heute steht an der Stelle des Grabes die Sakristei der Kirche. Die Grabplatte wurde in der Kirche aufgehängt. Eine Statue des Habnit und ein Schädel, von dem es heißt, es sei Habnits, befinden sich in der Kirche hinter dem Hochalter. „Unsere Kirche ist durch Habnit ein besonderer Ort geworden. Manchmal kommen noch Eltern vorbei, um zu Habnit zu beten“, sagt Alois Weber.
Auf der Suche nach mystischen Orten geht es zurück ins württembergische Allgäu, nach Meggen und Merazhofen, zwei unscheinbare Gemeinden in der Nähe von Leutkirch. Doch eine Besonderheit macht die Orte zu Anlaufpunkten für viele Menschen. Sie glauben an die Heilung durch Pfarrer Hieber, der bis zu seinem Tod im Jahr 1968 Gemeindepfarrer in Merazhofen war.
Augustinus Hieber soll besondere Gaben besessen haben. Er soll fähig gewesen sein, Krankheiten zu heilen und tragische Unfälle vorauszusehen. Außerdem soll er der Seelenschau mächtig gewesen sein. Das heißt, der Pfarrer soll die Sorgen seiner Besucher geahnt haben, bevor sie davon sprachen. Von seinen Anhängern wurde er „der Segenspfarrer vom Allgäu“genannt. Noch heute ist die Grabstätte des Pfarrers ein Ort, den viele besuchen und um Hilfe in ihren Anliegen bitten. Das Grab auf dem Friedhof in Merazhofen ist mit unzähligen, alten und aktuellen, Votivtafeln geschmückt. Darauf bedanken sich die Menschen für die Heilung von Krankheiten, den Beistand in schweren Zeiten oder sogar für die Hilfe beim Schulabschluss.
Kurz vor seinem Tod soll Pfarrer Hieber mehrmals angekündigt haben, dass nach seinem Tod in der Pfarrgemeinde ein Wunder geschehen werde. In Meggen, einem Teilort der Pfarrgemeinde Merazhofen, fand ein Junge im Juli 1972 das sogenannte Rasenkreuz. Mitten auf dem Feld des gläubigen Bauern Gebhard Bareth, der Pfarrer Hieber persönlich kannte und bewunderte, war ein Kreuz am Boden zu sehen. Im Verlauf des Kreuzes ist der Boden vertieft, auch heute noch, außerdem wächst dort weniger Gras. So sind deutlich die Konturen eines großen Kreuzes zu erkennen.
Heute kümmert sich die Tochter von Gebhard Bareth, die ihren Namen nicht nennen möchte, um das Rasenkreuz. An die Anfangszeit erinnert sie sich nicht gerne, denn ihre Familie wurde immer wieder beschimpft. „Die Leute haben meinem Vater einfach nicht geglaubt“, erzählt sie. Doch die Echtheit des Rasenkreuzes bestätige sich immer wieder, erzählt die Frau. Zum Beispiel seien im Mai 1983 genau auf dem Rasenkreuz, und nur dort, Gänseblümchen
„Diese Linde ist ein kultischer Baum und etwas ganz Besonderes.“
gewachsen. Und als Gebhard Bareth am 27. Juli 2005 starb, seien die Blätter an einer der Birken neben dem Rasenkreuz braun geworden. „Am Tag der Beerdigung meines Vaters sind dann alle Blätter von dem Baum abgefallen“, sagt die Tochter. „Nach diesem Tag hat die Birke, in jedem Jahr, ganz normal im Frühling ihre Blätter bekommen und im Herbst wieder verloren.“
Das Rasenkreuz wird von der Diözese Rottenburg-Stuttgart nicht als Wunder anerkannt. Trotzdem gilt es für viele als Kultstätte und Ort der Heilung. 2007 wurde neben dem Kreuz ein Andachtsraum errichtet. „Manche glauben an die Hilfe von Pfarrer Hieber und an das Rasenkreuz, und manche eben nicht“, sagt die Tochter von Gebhard Bareth.
Gleiches berichten auch Berthold Büchele über die Linde in Ratzenried und Alois Weber über die Hilfe durch Habnit. Die heilende Linde, an der Menschen versuchen, Krankheiten abzustreifen, das Grab des Habnit in Waldburg, zu dem Eltern kranker Kinder pilgerten, und das Rasenkreuz in Meggen: Drei der vielen mystischen Orte im Landkreis Ravensburg, an denen manche einfach vorbeigehen, die für andere aber eine besondere Bedeutung haben.
Berthold Büchele, Heimatforscher aus Ratzenried