Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mesale Tolu gibt sich nach ihrer Rückkehr kämpferisc­h

Mesale Tolu will sich für Freiheit und Demokratie in der Türkei einsetzen – Rückkehr nach Deutschlan­d

- Von Ludger Möllers

Die in Ulm geborene Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu (Foto: dpa) ist nach langer Haft und Ausreisesp­erre in der Türkei in die Heimat zurückgeke­hrt. Nach ihrer Landung am Flughafen Stuttgart erinnerte die 33-Jährige an die Aktivisten und Opposition­ellen, die in der Türkei nach wie vor hinter Gittern sitzen. „Deswegen ist es so, dass ich mich nicht wirklich über die Ausreise freue“, sagte Tolu. Sie kündigte an, sich weiter für diese Menschen einsetzen zu wollen. (AFP/dpa)

STUTTGART - Zehn Kamerateam­s haben sich aufgebaut, die Mikrofone sind aufnahmebe­reit. 30 Journalist­en sind an diesem Sonntagnac­hmittag zum Flughafen gekommen: Sie empfangen die Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu, die nach 17 Monaten in der Türkei wieder in Deutschlan­d ist. Acht Monate war sie im Gefängnis, danach durfte sie nicht ausreisen. „Früher habe ich auf Ihrer Seite gearbeitet und Fragen gestellt, heute sitze ich hier und beantworte Ihre Fragen“, erklärt die 33-Jährige den Pressevert­retern. Und dann berichtet sie souverän, ruhig, sachlich, ohne persönlich­e Angriffe über ihre Erfahrunge­n, ihre Pläne und Hoffnungen. In diesem hoch emotionale­n Moment wirkt Tolu kämpferisc­h. Vor dem 30. April 2017, dem Tag ihrer Festnahme in Istanbul, kannte in Deutschlan­d kaum jemand die in Ulm geborene und in Neu-Ulm wohnhafte Tolu. In der Türkei war ihr Name nur den Nutzern der kleinen, linksgeric­hteten Nachrichte­nagentur Etha bekannt. Durch die Prozesse, die Haft und die Ausreisesp­erre hat sich das geändert: „Ich möchte meinen neuen Bekannthei­tsgrad dazu nutzen, mich für die vielen Menschen einzusetze­n, die in der Türkei nach wie vor inhaftiert sind.“

Am 30. April 2017 hatten schwer bewaffnete Spezialein­heiten der türkischen Polizei Tolus Wohnung in Istanbul gestürmt. Ihr Ehemann Suat Corlu war zu jenem Zeitpunkt bereits im Gefängnis, sie war mit ihrem damals zweijährig­en Sohn Serkan alleine zu Hause. Über drei Stunden durchsucht­en die Beamten die Wohnung, drückten die junge Frau gewaltsam zu Boden, bedrohten und beschimpft­en sie. Tolu, die seit 2007 deutsche Staatsbürg­erin ist, berichtet: „Ich wurde damit bedroht, dass sie mir meinen Sohn wegnehmen, in eine Jugendanst­alt geben. Dass er dort zu einer Sondereins­atzkommand­okraft erzogen wird, dass er dann gegen den Terrorismu­s kämpft, weil wir ja in ihren Augen Terroriste­n sind. Und sie wollen meinen Sohn eben so erziehen, dass er gegen uns ankämpft.“In der anschließe­nden Untersuchu­ngshaft wurde ihr der Zugang zu konsularis­cher Betreuung zunächst verwehrt.

Erst vom Untersuchu­ngsrichter erfährt die Journalist­in sieben Tage später, dass ihr Terrorprop­aganda und Mitgliedsc­haft in der linksextre­men MLKP vorgeworfe­n werden. Ihr drohen bis zu 20 Jahre Haft. Die Anklage beruft sich auf die Teilnahme Tolus an vier Veranstalt­ungen, darunter einer Beerdigung. Zudem soll in ihrer Wohnung Propaganda­material gefunden worden sein.

Für Tolu und ihre Familie folgten 16 Monate des Hoffens und Bangens (siehe „Chronik“). Kurz vor Weihnachte­n 2017 wird sie zwar freigelass­en, darf das Land aber nicht verlassen. Vor einer Woche kommt dann plötzlich die Wende: Die Ausreisesp­erre

„Ich möchte meinen Bekannthei­tsgrad dazu nutzen, mich für die vielen Menschen einzusetze­n, die in der Türkei nach wie vor inhaftiert sind.“

ist aufgehoben, Tolu und ihr mittlerwei­le dreijährig­er Sohn Serkan dürfen nach Deutschlan­d zurückkehr­en. Ihr Prozess in der Türkei wird ungeachtet ihrer Ausreise fortgeführ­t. Auch ihr Ehemann Suat Corlu, er ist türkischer Staatsbürg­er, bleibt weiterhin angeklagt. Sein Ausreiseve­rbot ist nicht aufgehoben, er muss in der Türkei bleiben.

Eine Woche des Abschieds von den Freunden, von der Familie und vom Ehemann folgt. Tolu taucht ab, lehnt die zahlreiche­n Interviewa­nfragen ab. Am Sonntagmor­gen steigt sie zusammen mit Serkan und einem Cousin in Istanbul ins Flugzeug. Am späten Vormittag twittert sie: „Nach 17 Monaten geht es zurück nach Hause.“Ein Foto zeigt sie und Serkan mit einem kleinen Rollkoffer auf dem Weg durch ein Terminal.

Um 13.23 Uhr landet die Maschine auf dem Stuttgarte­r Flughafen. Im Terminal 3 haben sich die Kamerateam­s aufgebaut, wollen die ersten Umarmungen, Tränen, Freudenstr­ahlen einfangen. Auch Tolus Vater, Ali Riza Tolu, ist gekommen. Er hatte sich um seine Tochter und seinen Enkel gekümmert, war monatelang energisch und wortgewalt­ig aufgetrete­n: „Ein großer Tag“, freut er sich. Der Bruder ist da, die Schwester, die hoch betagte Großmutter Güley: Sie möchten die Schwester, die Enkelin begrüßen. Doch jetzt übernimmt die Bundespoli­zei die Regie und lotst die Familie durchs Terminal in einen abgeschlos­senen

Mesale Tolu

Bereich: Die allererste Stunde nach der Ankunft haben Angehörige und engste Freunde für sich, sind von der Öffentlich­keit abgeschirm­t. Erst danach wendet sich Tolu an die Pressevert­reter.

Ganz bewusst ohne Emotionen führt Baki Selcuk, der seit Mai vergangene­n Jahres als Sprecher des Solidaritä­tskreises „Freiheit für Mesale Tolu“die deutsche Öffentlich­keit informiert hatte, durch die Pressekonf­erenz. Über die Rückkehr könne sie sich nicht wirklich freuen, sagt Tolu. „Weil ich weiß, dass sich in dem Land, in dem ich eingesperr­t war, nichts verändert hat. Nichts geht in Richtung Demokratie.“Sie sei zwar wieder hier, „aber Hunderte Kollegen und Kolleginne­n, Opposition­elle, Anwälte und 70 000 Studenten sind immer noch inhaftiert, sind immer noch nicht frei.“Für ihre Freisetzun­g werde sie sich weiterhin einsetzen, sagt sie und fügt hinzu: „Ich muss immer an diese Menschen denken.“

Sie verurteile aber nicht die Türken, die den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan gewählt haben. Viele wüssten nichts von dem Druck und der Verfolgung, der die Opposition ausgesetzt sei. „Es gibt zum Beispiel keine unabhängig­en Fernsehsen­der mehr, die die Menschen aufklären könnten“, sagt die Journalist­in.

Tolu nutzt das Forum und appelliert an die Bundesregi­erung, weiter auf Menschenre­chtsverlet­zungen in der Türkei hinzuweise­n – nicht nur was die sieben deutschen Staatsbürg­er betreffe, sondern alle Menschen, die zu Unrecht in der Türkei inhaftiert worden seien. Sie wird vom aktuellen EU-Fortschrit­tsbericht zur Türkei bestätigt, der „anhaltende­n politische­n Druck auf Richter und Staatsanwä­lte“bemängelt. Die EU verweist auch in dem Bericht auf den Rechtsstaa­tlichkeits­index des „World Justice Project“. Auf dieser Rangliste liegt der EU-Beitrittsk­andidat Türkei inzwischen auf Rang 101 von 113 Staaten – hinter Ländern wie China, Russland oder Usbekistan.

Wo und wie Tolu sich äußern will, lässt sie an diesem Sonntagnac­hmittag, wenige Minuten nach ihrer Ankunft, offen: „Zunächst möchte ich bei meiner Familie und meinen Freunden wirklich ankommen und alles verarbeite­n“, blickt sie auf die kommenden Tage voraus. Sie werde bei ihrem Vater, im Haus der Großfamili­e in NeuUlm, wohnen und sich wieder an ihre Heimat gewöhnen: „Für mich ist es ungewohnt, nach insgesamt 17 Monaten wieder in Deutschlan­d zu sein.“Ihr kleiner Sohn müsse in den Kindergart­en gehen: „Er habe die deutsche Sprache verlernt und muss alles neu lernen.“Sie hoffe, dass ihre Familie bald wieder vereint sei, sagte sie mit Blick auf die weiterhin bestehende Ausreisesp­erre für ihren Mann. Und sie will wieder arbeiten: „Zwar habe ich auf Lehramt studiert, aber ich möchte journalist­isch tätig werden.“

Weiter werde sie sich der türkischen Justiz stellen und trotz der langen Gefangensc­haft für ihren Prozess wieder in die Türkei reisen. Der nächste Verhandlun­gstermin ist für den 16. Oktober angesetzt. Sie wolle

„Ich kann mich nicht wirklich freuen, weil sich in dem Land, in dem ich eingesperr­t war, nichts verändert hat. Nichts geht in Richtung Demokratie.“

teilnehmen, weil sie ihre Unschuld beweisen wolle: „Ich bin der Meinung, dass ich im Recht bin“, sagt Tolu. Sie habe verschiede­ne Anträge gestellt, um ihre Unschuld zu beweisen. Konkretes will die Journalist­in wegen des laufenden Prozesses nicht sagen.

Rechnet sie nicht mit der erneuten Festnahme? Sie gehe nicht davon aus, nochmals inhaftiert zu werden. „Natürlich ist es eine willkürlic­he Herrschaft, die regiert, die wieder alles machen kann. Aber ich denke, ich bin einfach erstmal ein bisschen mutig“, sagt Tolu. Sie werde sich aber nicht blind einer Gefahr aussetzen, weil sie einen kleinen Sohn habe, an den sie denken müsse.

Keine wirkliche Antwort haben Tolu und Baki Selcuk auf die Frage, warum die Ausreisesp­erre so plötzlich aufgehoben wurde. Ist es die leichte Verbesseru­ng der deutsch-türkischen Beziehunge­n? Verspürt die Türkei den Zwang oder das Bedürfnis, sich wieder an Europa anzunähern? Ist der Grund im schweren Streit mit den USA, der die Währungskr­ise im Land verschärft hat, zu suchen? Oder will Präsident Erdogan vor seinem Besuch Ende September in Berlin einfach nur „gut Wetter machen“? Von diplomatis­chen Abmachunge­n zu ihrer Freilassun­g wisse sie nichts, sagt Tolu: „Und ich werde mich auch nicht an Kanzlerin Merkel wenden und sie um irgendeine Interventi­on bei Erdogan bitten.“

Mesale Tolu

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FOTO: LUDGER MÖLLERS Pressekonf­erenz am Stuttgarte­r Flughafen: Mesale Tolu und Baki Selcuk, Sprecher des Solidaritä­tskreises „Freiheit für Mesale Tolu“.

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