Die Opfer in den Mittelpunkt stellen
Die Enttäuschung nach dem Papst-Besuch in Irland ist groß: Die weltweite Initiative „Ending Clergy Abuse“(ECA) äußert sich kritisch über Franziskus und vermisst „ernsthafte und konkrete“Aussagen und will wissen, was der Papst gegen den Missbrauchsund Vertuschungsskandal in der katholischen Kirche unternehmen will. Missbrauchsopfer berichten aus dem Gespräch mit Franziskus, er habe nichts Neues gesagt. Damit hat der Papst erneut eine Chance verstreichen lassen, sich auf die Seite der Opfer zu stellen.
Immer noch haben in der katholischen Kirche Kräfte die Oberhand, die die Institution angeblich vor Schaden bewahren wollen. Ein Beispiel ist der Kurienerzbischof Georg Gänswein: Wenn der Privatsekretär des emeritierten Papstes Benedikt XVI. betont, die Kirche gehe bei Aufklärung und Aufarbeitung seit Jahren mit gutem Beispiel voran, zeugt dies von kaum zu unterbietender Ignoranz.
Denn immer noch melden sich – selbst 30 Jahre nach Bekanntwerden der ersten Fälle – weitere Missbrauchsopfer. Menschen, die von Verbrechen an ihrem Leib und ihrer Seele berichten, und die sich nach wie vor ungehört, unverstanden und ungerecht behandelt fühlen.
Wer die Berichte der Grand Jury aus Pennsylvania liest, wer Fotos der offensichtlich für ihr Leben gezeichneten Betroffenen betrachtet oder selbst mit Opfern spricht, spürt, dass sie mehr Hilfe, eine bessere Therapie, offenere Ohren und vor allem ehrlicheren Respekt wünschen. Wenn jetzt aus dem anglo-amerikanischen Raum die Idee einer Wahrheitsund Versöhnungsbewegung kommt, dann muss die Wahrheit an erster Stelle stehen: erst schonungslose Aufklärung, dann Versöhnung.
Franziskus hätte mit einer neuen Opfer-Initiative immer noch die Chance zu beweisen, wo seine Kirche steht: auf der Seite der Schwachen und der Benachteiligten. Er sollte es dringend tun. Und die deutschen Bischöfe, die in vier Wochen eine eigene Missbrauchsstudie vorlegen, sollten sich ebenso klar bekennen. Ihren Worten müssen Taten folgen, die Wunden sind noch immer offen.