Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wenn Volkes Meinung Gesetz sein soll

- Von Sabine Lennartz, Berlin

Sachsens junger Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) hat ein schwierige­s Erbe angetreten. Immer schon gab es im Freistaat Sachsen mehr Rechtsextr­emisten als in anderen Ländern. Doch Kretschmer versucht, seine vom Rest der Republik besonders argwöhnisc­h beobachtet­en Landsleute, genauer gesagt, die potenziell­en AfD-Wähler in seinem Land, bei der Stange zu halten und wieder zur CDU zurückzuho­len.

Deshalb fährt er eine Doppelstra­tegie. Man tut alles gegen Rechtsextr­emisus, aber so schlimm war es nun auch nicht. Auch in anderen Städten gibt es Ausschreit­ungen und Sachsen ist nur eine Art Seismograp­h. Sprich, Kretschmer relativier­t die Vorfälle in Chemnitz. In unzulässig­er Weise, wie die Grünen meinen.

Als der sächsische Landtag jetzt die Ausschreit­ungen diskutiert­e, begann die Sitzung mit einer Schweigemi­nute für den in Chemnitz erstochene­n Deutsch-Kubaner Daniel H. Wegen der Tat sitzen zwei Asylbwerbe­r aus Syrien und dem Irak in Untersuchu­ngshaft, ein dritter Iraker wird mit Haftbefehl gesucht. Das Tötungsdel­ikt hatte zum Teil gewaltsame rechtsgeri­chtete Demonstrat­ionen ausgelöst, deren Bilder bundesweit Aufsehen erregten.

Kretschmer versucht den Spagat

In seiner Regierungs­erklärung vor dem sächsische­n Landtag behauptete Kretschmer nun: „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und es gab keine Pogrome in dieser Stadt“, und er übte Kritik auch an einem Teil der Berichters­tattung durch Journalist­en. Gleichzeit­ig fügte er aber auch hinzu: „Aber die, die es getan haben, sind schlimm genug – und denen sagen wir den Kampf an.“Kanzlerin Merkel hatte dagegen ganz klar „Hass und Verfolgung“in Chemnitz verurteilt, die viele Beobachter auch gesehen haben.

Kretschmer versucht nun auf besondere Weise den Spagat hinzubekom­men zwischen jenen, die auf der Straße waren, und jenen, die entsetzt darüber sind. „Wir müssen den Rechtsstaa­t stark machen – und deswegen ist es notwendig, dass die Politik auf Entwicklun­gen reagiert, Gesetze anpasst und dafür sorgt, dass das, was Volkes Meinung ist, sich am Ende auch bei Rechtsents­cheidungen durchsetzt – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis“, so Kretschmer weiter.

Das erinnert von Ferne an das Vorgehen des nordrhein-westfälisc­hen Innenminis­ters Herbert Reul. Der CDU-Politiker hatte nach der Abschiebun­g des als Gefährder eingestuft­en Tunesiers Sami A. trotz eines anderen Gesichtsbe­schlusses befunden: „Die Unabhängig­keit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidu­ngen dem Rechtsempf­inden der Bevölkerun­g entspreche­n. Ich zweifle, ob das bei diesem Beschluss der Fall ist.“

Doch das Grundgeset­z und dessen Anwendung ist keine Empfehlung, die zur Dispositio­n stehen. Und am Ende ist auch nicht Volkes Meinung entscheide­nd, sondern dass in einer Demokratie die Gesetze angewandt werden, die da sind. Und natürlich jene geändert werden, die sich als nicht sinnvoll erwiesen haben. Zuständig für diese Gesetze aber ist das gewählte deutsche Parlament und nicht Volkes Meinung.

In einem Interview hatte Kretschmer gesagt, Sachsen sei der Seismograp­h für Entwicklun­gen in anderen Bundesländ­ern. Sachsen als Vorreiter – viele hoffen, dass er falsch liegt.

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