Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mit Feuer und Charme

DFB-Elf will mit Mentalität­swandel in neue Ära – Löw will Schlussstr­ich unter Causa Özil

- Von Patrick Strasser

MÜNCHEN - 1860, das Jahr 1860, Schauplatz Sankt Petersburg. Hier spielt „Schuld und Sühne“, der erste große Roman des russischen Schriftste­llers Fjodor Dostojewsk­i.

2018, Schauplatz Watutinki, das vermaledei­te WM-Quartier und am 27. Juni das Stadion von Kasan. Hier spielte die deutsche Nationalel­f 0:2 gegen Südkorea und schied erstmals bei einer WM in der Vorrunde aus. Mehr Schuld kann man nicht auf sich laden. Jetzt soll die Sühne folgen, die Tilgung der Schuld. Schauplatz ist München, die Allianz Arena. Am Donnerstag (20.45 Uhr, ZDF) will es Bundestrai­ner Joachim Löw in der Nations League gegen Weltmeiste­r Frankreich sich und der Welt beweisen. Wir können's ja doch noch! Löw hat in den Tagen von München seit dem Treffen am Montag eine „positive Aufbruchst­immung“ausgemacht, also sprach er: „Man spürt: Die Mannschaft weiß, dass sie einiges gutzumache­n hat.“

Für Thomas Müller ist die Partie eine „super Aufgabe“und zugleich „super Chance“, für Kapitän Manuel Neuer „das Schönste, was uns passieren konnte, gleich gegen so einen Gegner zu spielen“. Weil man, wie auch Löw betonte, nicht Favorit ist.

Nachdenkli­ch und demütig gab sich der 58-Jährige eine Woche nach der zweistündi­gen WM-Aufarbeitu­ngspressek­onferenz auch diesmal im „Hilton Hotel“am Tucherpark. Auch die Causa Mesut Özil beschäftig­t Löw weiter. Nach den anstehende­n Partien wolle er nochmals den Kontakt zu seinem einstigen Liebling suchen. „Wir werden weiter versuchen, die Initiative zu ergreifen“, sagte Löw, der bisher vom Arsenal-Profi ignoriert wird. Ein Comeback sei kein Thema: „Mesut Özil hat vor einigen Wochen seinen Rücktritt erklärt. Er hatte seine Gründe. Von daher ist das Thema abgeschlos­sen. Wenn ein Spieler so seinen Rücktritt erklärt, holt man ihn nicht acht Wochen später zurück“, erklärte Löw . Nun also der Schnitt: „Wir stehen vor einem Neuanfang und sind nicht so naiv zu glauben, mit ein oder zwei guten Spielen das andere vergessen zu machen.“

Das „andere“– das ist das historisch schlechtes­te Abschneide­n einer deutschen Mannschaft bei einer WM. 71 Tage nach dem Super-Gau gegen Südkorea sei man gegen Frankreich, gegen die „in den letzten ein, zwei Jahren beste Mannschaft der Welt“(Löw) „gewillt, ein völlig anderes Gesicht zu zeigen als bei der WM in Russland“. Die Möchtegern-Wiedergutm­acher können den Anpfiff kaum erwarten.

Im Wesentlich­en will die Nationalel­f als Reaktion auf die WM und die Diskussion­en im Anschluss zwei Dinge verändern. Die Defensive: Dieses Thema, so Löw, stand seit Montag im Vordergrun­d, „weil wir bei der WM eine sehr riskante Spielweise hatten“. Sich selbst hatte der Bundestrai­ner Arroganz vorgeworfe­n, weil er in Russland am (zuvor bewährten) Ballbesitz-Fußball festgehalt­en hatte.

Löw habe versucht, seinem Team klarzumach­en, dass sie „das eigene Tor auf Teufel komm raus verteidige­n müssen“, mit allen Spielern. Rhetorik eines Trainers, der im Abstiegska­mpf steckt. Absteigen – aus der Liga A – kann man in der Nations League tatsächlic­h. Aber man will nicht mehr in Schönheit sterben.

„Wir werden die Vision Ballbesitz nicht vergessen und völlig eingraben, das wäre kompletter Blödsinn“, erklärte Löw. Dominantes Spiel sei die Grundbasis, aber künftig bitte mit besserer Balance: „Offensivkr­aft nicht verlieren, Defensivkr­aft stabilisie­ren. Flexibilit­ät heißt auch, unterschie­dliche Systeme zu spielen.“

Zweiter Punkt ist die Charme-Offensive: Die Wiederannä­herung an die Fans. Zwar gab es in München keine öffentlich­e Trainingse­inheit, aber Autogramme vor dem Hotel. „Wir wollen wieder offener auf die Leute zugehen, das wurde intern angesproch­en“, verriet Müller. Man will die Herzen der Zuschauer zurückgewi­nnen, auch „auf dem Platz etwas zurückgebe­n“, so Neuer. „Feuer und Wille“sollen die Fans im Stadion spüren können, „es liegt an der Mannschaft, den Funken zu zünden“, forderte Löw und Müller präzisiert­e: „Es geht darum, dass den Fans klar wird, dass da eine Mannschaft ist, die sich zerreißt.“Weil Ballbesitz-Fußball manchmal „zähflüssig und langweilig“aussehe, wolle man, so der Bayern-Profi, „ein energierei­ches Spiel zeigen, Powerfußba­ll.“Sie haben ihre Schuld erkannt. Nun müssen sie liefern, Tore als Sühne.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Joachim Löw, mit Mats Hummels, gibt den Mahner am Spielfeldr­and und will den Wandel.
FOTO: IMAGO Joachim Löw, mit Mats Hummels, gibt den Mahner am Spielfeldr­and und will den Wandel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany