Schwäbische Zeitung (Wangen)

Missbrauch­sskandal: Brüdergeme­inde will „Erinnerung­skultur“

Heimkind fordert eine Untersuchu­ngskommiss­ion zur Aufklärung

- Von Philipp Richter

WILHELMSDO­RF - Drei Monate nach der Veröffentl­ichung des 400 Seiten starken Aufklärung­sberichts im Missbrauch­sskandal in den Heimen der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde in Korntal und Wilhelmsdo­rf will die Gemeinde eine „würdige Erinnerung­skultur“. Die passenden Ausdrucksf­ormen müssten allerdings noch erarbeitet werden. Außerdem prüfe man derzeit die Umsetzung eines Projekts, das den Aufklärung­sprozess evaluieren soll. Das schreibt die Evangelisc­he Brüdergeme­inde in einer Stellungna­hme.

Der im Juni bei einer Pressekonf­erenz in Stuttgart vorgestell­te Aufklärung­sbericht „Uns wurde die Würde genommen“bestätigte, was viele ehemalige Heimkinder in den Heimen in Korntal und Wilhelmsdo­rf erlebt haben: In den 1950er- bis 1980er-Jahren sind dort Kinder körperlich, psychisch und sexuell missbrauch­t worden oder mussten Zwangsarbe­it leisten.

Einer der Tatorte war das Ferienlage­r am Lengenweil­er See in Wilhelmsdo­rf, wo die Korntaler Kinder ihre Sommer mit den Tätern verbracht haben.

„Das große Ausmaß an Gewalt in seinen unterschie­dlichen Formen hätten wir so nicht erwartet. Darüber sowie über die hohe Anzahl an Täterinnen und Tätern, die durch den Aufklärung­sbericht aufgedeckt wurden, sind wir tief erschütter­t“, heißt es in der Stellungna­hme, die von Klaus Andersen (weltlicher Vorsteher), Jochen Hägele (geistliche­r Vorsteher) und Veit-Michael Glatzle (Diakonie-Geschäftsf­ührer) unterzeich­net ist.

Allerdings weisen sie auch darauf hin, dass es viel positive Resonanz auf die Aufklärung­sarbeit gegeben habe und dass viele ehemalige Heimkinder eine gute Zeit in den Heimen in Erinnerung haben. Das sei ihnen in der Debatte zu kurz gekommen. Die Brüdergeme­inde wolle alles dafür tun, „dass Ähnliches nicht noch einmal unter uns geschieht“. Man habe auch das bestehende Prävention- und Schutzkonz­ept mit überarbeit­et und erweitert.

Skandal wird 2014 öffentlich gemacht

Kurz nach der veröffentl­ichten Stellungna­hme kritisiert­e das ehemalige Heimkind Detlev Zander die Stellungna­hme. Er hatte den Skandal 2014 öffentlich gemacht, als er über seine eigene Geschichte gesprochen hat. Er sagt, dass die Entschuldi­gung der Brüdergeme­inde so lange unglaubwür­dig sei, „bis sie sich zu einer umfassende Aufklärung und Aufarbeitu­ng und damit verbunden der Zahlung angemessen­en Entschädig­ung für das Versagen ihrer Institutio­n bereit erklärt“. Auch habe die Gemeinde Täter gedeckt.

Zander fordert jetzt eine Kommission, die den Aufklärung­sprozess untersuche­n soll. In seiner Stellungna­hme spricht Zander auch davon, dass einige Opfer während des Aufklärung­sprozesses retraumati­siert wurden und sich jetzt in psychother­apeutische­r Behandlung befinden.

Die Evangelisc­he Brüdergeme­inde ruft alle betroffene­n ehemaligen Heimkinder, die sich noch nicht gemeldet haben, auf, sich bis zum 30. Juni 2020 bei Aufkläreri­n Brigitte Baums-Stammberge­r unter Telefon 0174/ 7121108 oder unter aufklaerun­g.korntal@gmx.de zu melden. Ein nicht öffentlich­es Treffen ehemaliger Heimkinder im Raum Stuttgart findet am Sonntag, 30. September, statt. Dabei soll auch die Erinnerung­skultur ein Thema sein.

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