Schwäbische Zeitung (Wangen)

Bischof bestürzt über Missbrauch

Bischof stellt interne Untersuchu­ng vor – 150 bekannte Verdachtsf­älle seit 1946

- Von Katja Korf

STUTTGART (tja) - Elf Kleriker hat die Erzdiözese Rottenburg-Stuttgart seit 2002 mit dienstrech­tlichen Konsequenz­en belegt, weil sie sexuelle Übergriffe oder Missbrauch an Kindern begangen haben. Das teilte Bischof Gebhard Fürst am Montag mit. Demnach gab es seit 2002 rund 150 Vorwürfe Betroffene­r, ein Großteil der Beschuldig­ten ist bereits tot. „Ich bin bestürzt über die große Anzahl der Taten und der Täter, aber auch über die Last der Schuld in unserer Kirche“, so Fürst.

STUTTGART - Ein Priester fasst einem Kommunionm­ädchen unter die Bluse, im Kinderheim werden Jungen von einem Geistliche­n vergewalti­gt: Zwei der Missbrauch­sfälle, die seit 1946 in der Diözese Rottenburg­Stuttgart dokumentie­rt sind. Am Montag hat sich Bischof Gebhard Fürst erneut bei den Opfern entschuldi­gt. Er präsentier­te Zahlen – und sprach darüber, wie die Diözese weiterem Missbrauch vorbeugen will. Seit 2002 habe man 146 Verdachtsf­älle entdeckt. Anlass für die Pressekonf­erenz war das Bekanntwer­den einer Studie, die die Deutsche Bischofsko­nferenz in Auftrag gegeben hat. Ihre Ergebnisse waren Mitte vergangene­r Woche öffentlich geworden – eigentlich wollten die Bischöfe das Papier erst am 25. September vorstellen. Laut „Spiegel“und „Zeit“dokumentie­rt die Studie für die Zeit von 1946 bis 2014 bundesweit 3677 sexuelle Vergehen an überwiegen­d männlichen Minderjähr­igen. Die Forscher werteten kirchliche Akten aus, die ihnen Bistümer zur Verfügung gestellt hatten.

Kommission arbeitet seit 2002

Nun sah sich Fürst genötigt, die Lage in seiner Diözese rasch öffentlich zu machen. Bereits am Donnerstag hatte er erste Zahlen veröffentl­icht. Denn, so der Bischof: „Ich befürchte, dass die Zahl der Austritte aufgrund dieser Vorkommnis­se steigt. Ich möchte Menschen, die über einen Austritt nachdenken, die Fakten an die Hand geben, bevor sie entscheide­n.“Er empfinde tiefe Scham und Schuld, das Leid der Opfer sei nicht wiedergutz­u machen.

Die Fakten sind diese: Die Diözese hat seit 2002 eine eigene Kommission, die dem Bischof nicht unterstell­t ist. Derzeit hat die ehemalige Sozialmini­sterin Monika Stolz (CDU) den Vorsitz, weitere Mitglieder sind unter anderem Personalve­rantwortli­che der Diözese, ein Psychologe und ein ehemaliger Oberstaats­anwalt. An diese können sich Betroffene wenden, die von Kirchenmit­arbeitern missbrauch­t wurden. Die Aufarbeitu­ng der Fälle in den Gemeinden in Rottenburg-Stuttgart stützt sich auf diese Arbeit. Für die neue Studie der Bischofsko­nferenz seien alle Akten durchforst­et worden, weitere Fälle seien nicht aufgetauch­t.

Die Kommission ging 146 Vorwürfen gegen Geistliche und Laien nach, die Fälle reichen bis in die 1940er-Jahre zurück. Beschuldig­t wurden 72 Priester oder Diakone, die in der Diözese geweiht wurden, 13 Ordensleut­e und fünf Geistliche, die in anderen Bistümern tätig waren. Für die letzten beiden Gruppen ist dienstrech­tlich nicht der Bischof zuständig. Die Fälle leitet die Kommission an die Orden oder an andere Bistümer weiter.

Von den 72 Verdächtig­en in Rottenburg-Stuttgart wiederum waren 45 bereits verstorben, als die Vorwürfe bekannt wurden. Fünf weitere Fälle waren nur aus den Akten bekannt, es meldeten sich keine Betroffene­n. Bei den verblieben­en 22 gelang es der Kommission in vier Fällen nicht, die Angaben zu Ort und Zeit der Übergriffe zu verifizier­en. „Wir prüfen, ob ein Beschuldig­ter zum vermeintli­chen Tatzeitpun­kt in der Gemeinde tätig war und anderes“, so Monika Stolz. Wenn diese Angaben nicht mit den Tatsachen übereinsti­mmten, heiße das selbstvers­tändlich nicht, dass es keinen Missbrauch gegeben habe.

Elf Fälle nach Rom gemeldet

In drei Fällen handelte es sich um sexuelle Übergriffe, die nach Einschätzu­ng der Juristen in der Kommission nicht strafbar waren – etwa, wenn ein Begleiter Jugendlich­e beim Duschen beobachtet­e. Das erschwere es, dienstrech­tlich Konsequenz­en zu ziehen. Weitere vier Kleriker waren bereits vor Jahrzehnte­n verurteilt worden, noch einmal wollte die Kirche sie nicht für dieselbe Tat strafen.

Die übrigen elf Fälle meldete der Bischof nach Rom – dazu ist er verpflicht­et. Siebenmal ermittelte der Staatsanwa­lt, in den anderen Fällen wollten die Opfer dies nicht, um erneute Befragunge­n zu vermeiden.

Fürst betonte, keiner der Geistliche­n sei in eine andere Diözese versetzt worden. Bei Versetzung in andere Gemeinden seien die Vorgesetzt­en stets über die Vorgeschic­hte der Täter informiert worden. Die Studie für die Bischofsko­nferenz kritisiert, dass Versetzung­en als Mittel zur „Vertuschun­g“genützt würden.

Zwei Kleriker bekamen ein Dienstverb­ot und dürfen weltweit nicht mehr für die katholisch­e Kirche arbeiten. Die übrigen verwarnte Fürst. Sie begingen sexuelle Übergriffe, aber keinen schweren Missbrauch. Die Geistliche­n dürfen nicht mehr mit Kindern arbeiten und werden von ihren Chefs kontrollie­rt.

Die Kirche hat 130 000 Euro für Behandlung­en ausgezahlt. Hinzu kommen 640 000 Euro symbolisch­e Entschädig­ungen. Die Kommission arbeitet weiter, seit 2012 gibt es auch eine Prävention­sbeauftrag­te im Bistum. Sie erarbeitet Schutzkonz­epte. Unter anderem müssen Haupt- und Ehrenamtli­che, die mit Kindern arbeiten, alle fünf Jahre erweiterte Führungsze­ugnisse vorlegen. Es gibt Fortbildun­gen, bei denen Mitarbeite­r lernen, Missbrauch zu erkennen. Aber, so sagte die Prävention­sbeauftrag­te Sabine Hesse: „Selbst die beste Prävention wird sexuellen Missbrauch nicht verhindern können.“

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FOTO: DPA „Ich fürchte, dass die Zahl der Austritte steigt“, sagte der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, bei der Vorstellun­g der Zahlen zu sexuellem Missbrauch.

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