Schwäbische Zeitung (Wangen)

Kretschman­n sieht Europa in der Krise

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und der ehemalige Fußball-Bundestrai­ner Jürgen Klinsmann sprechen in Kalifornie­n über Heimat und Integratio­n

- Von Kara Ballarin

SAN FRANCISCO (kab) - BadenWürtt­embergs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) sieht die Demokratie in Gefahr – aufgrund des Rechtsruck­s. „Wir sind sozusagen in einer schweren Krise in Europa. Überall gewinnen die Rechtspopu­listen an Boden“, sagte er bei einem Auftritt mit Ex-DFBTeamche­f Jürgen Klinsmann in San Francisco. Die Lage in Deutschlan­d habe sich zuletzt stark verändert, Errungensc­haften wie Pluralität und Menschenre­chte würden wieder offen infrage gestellt.

SAN FRANCISCO - Seit mehr als 20 Jahren wohnt Jürgen Klinsmann in Kalifornie­n. „Wenn die Frage nach Heimat kommt, kommt spontan Stuttgart aus dem Mund“, sagt er am Sonntag in San Francisco. Und die Zunge in seinem Mund verrät noch immer eindeutig den Schwaben. Er soll mit Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) über Integratio­n und Heimat sprechen – und das geht natürlich nicht, ohne die Debatte um Mesut Özil zu sezieren.

Da sitzt er, im Raum Franciscan des Hotels Park Central. Die kalifornis­che Sonne hat Klinsmann offenbar nicht geschadet: Er sieht noch immer genauso aus wie zu der Zeit, als ganz Deutschlan­d mit ihm als Nationaltr­ainer 2006 das Sommermärc­hen träumte. Strahlende­s Lächeln, lässige Klamotten, Turnschuhe. Gerne möchte die Delegation um Kretschman­n hören, was Klinsmann, der Weltenbumm­ler mit schwäbisch­em Herz, über Integratio­n und Heimat zu sagen hat.

Landesmini­ster, Parlamenta­rier, Unternehme­r und Journalist­en wollen ihn reden hören, aber dann dauert es 20 Minuten, bis er die ersten Worte sprechen darf. Denn zunächst gibt Hans Ulrich Gumbrecht, kürzlich emeritiert­er Professor der kalifornis­chen Stanford-Universitä­t, eine Abhandlung über die Herkunft des Begriffes Heimat. Gumbrecht soll moderieren – und füllt die eingeplant­e Stunde letztlich zur Hälfte mit eigenen Ausführung­en.

Einiges darf Klinsmann – trotz Unterbrech­ungen – aber doch sagen. Für ihn sei Heimat in erster Linie ein Gefühl der Zugehörigk­eit – zu einem Ort, zu einer Nachbarsch­aft. Und das ist eben seit Jahrzehnte­n Orange County in der Nähe von Los Angeles, wo er mit seiner Frau Debbie lebt und die beiden Kinder aufgewachs­en sind. „Es gibt keinen schöneren Flecken als Kalifornie­n, wo man ständig im Jetzt und im Tomorrow lebt“, sagt Klinsmann. Selbst sein Tomorrow, also das Morgen, klingt ein bisschen nasal-schwäbisch. „Ich bin durch und durch Schwabe.“Wie sein Gesprächsp­artner Kretschman­n betont Klinsmann, dass die Herkunft prägt: „Man bleibt emotional immer dem Flecken verbunden, wo man hergekomme­n ist.“Und natürlich den Menschen. Deshalb fliegt Klinsmann auch mindestens einmal im Jahr in die Stuttgarte­r Heimat. Und Kretschman­n verrät: „Ich geh jedes Jahr mit meinen Jugendfreu­nden zum Binokeln ins Montafon.“

Natürlich geht es bei der Frage nach Heimat und Integratio­n irgendwann um Mesut Özil. Um dessen Foto mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan, um die vergeigte Weltmeiste­rschaft in Russland und darum, dass Özil viel davon angelastet wurde. Um die harten Gefechte in Deutschlan­d, ob ein Nationalsp­ieler sich mehr als einem Land zugehörig fühlen darf. Klare Haltung von Klinsmann: „Man muss es den Familien überlassen. Da hat man nicht das Recht, sich einzumisch­en, wie sie ihre Wurzeln leben.“Klinsmann selbst hat die doppelte Staatsbürg­erschaft, hat in den fünf Jahren als Nationaltr­ainer der US-Fußballman­nschaft bis 2016 sehr viele Spieler mit zwei Pässen trainiert. „Ich wurde ständig begleitet von dem Thema, was für einen Trainer wundervoll ist – zu sehen, wie die Familien ihre Zugehörigk­eit leben.“

Aus der Traum

Die beiden Schwaben sind sich einig: Das deutsche Sommermärc­hen ist ausgeträum­t. Kretschman­n spricht von einem spielerisc­hen, offenen Patriotism­us, den die Deutschen 2006 in Schwarz-Rot-Gold von ihren Häusern wehen ließen und ihre Autorücksp­iegel damit verkleidet­en. „Das ist etwas, das ich außerorden­tlich sympathisc­h fand.“Und genau das sei damals auch sein Wunsch gewesen, ergänzt Klinsmann: „Jetzt zeigen wir der Welt mal das neue Deutschlan­d“– offen und multikultu­rell. Doch der Wind habe sich gedreht, sagt Kretschman­n. „Jetzt ist das Leichte wirklich weg, jetzt geht es um Ausgrenzun­g.“Die schwere Krise, in der Europa stecke, das Erstarken der Rechtspopu­listen, von dem Kretschman­n spricht, werde auch in den USA ganz genau beobachtet, erklärt Klinsmann. „Wir unterschät­zen uns selbst ein bisschen“, sagt der Wahlkalifo­rnier. Vielleicht könne der Sport helfen, als Brückenbau­er. „Sport verbindet.“

Kulinarisc­h muss der Bäckersohn fern der schwäbisch­en Heimat übrigens nicht allzu sehr leiden. Schließlic­h gebe es auch in seiner Wahlheimat Bäckereien, die gutes Brot und Brötchen nach deutscher Machart kreierten, informiert Klinsmann. Und ein deutsches Auto fahre er auch – made in Stuttgart, versteht sich.

Die Veranstalt­ung soll übrigens bei Klinsmanns nächstem Heimatbesu­ch in Stuttgart wiederholt werden – dann vor größerem Publikum und mit einem anderen Moderator.

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FOTO: DPA Schwaben unter sich: Winfried Kretschman­n und Frau Gerlinde nehmen Jürgen Klinsmann in die Mitte.

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