Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Ein Trauma ist ein Gewitter im Inneren“

Anni Heine, Heilprakti­kerin für Psychother­apie, erklärt das komplexe Thema Trauma nach Bluttaten

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RAVENSBURG - Anni Heine ist anerkannte Spezialist­in für Traumatisi­erungen und wird regelmäßig von der Polizei, vom Weißen Ring, der Feuerwehr oder auch von Betroffene­n selbst um Hilfe angefragt. „Mehr Sitzungen als Lebenstage“habe sie erlebt, sagt die 51-Jährige, die eine eigene Praxis in Ravensburg führt. Die Heilprakti­kerin für Psychother­apie hat im Gespräch mit Barbara Sohler das komplexe Thema „Trauma“transparen­t und nachvollzi­ehbar skizziert. Auch im Hinblick auf Bluttaten wie den Messerangr­iff in Ravensburg mit drei Schwerverl­etzten oder zuvor die Attacke eines Mannes auf seine Ehefrau im Flüchtling­sheim Berg.

Frau Heine, was genau versteht man unter einem Trauma?

Zunächst und auf einen ganz kleinen Nenner gebracht ist ein Trauma ein Ereignis, das geeignet ist, jeden von uns – unabhängig von seiner bisherigen Vorbelastu­ng – aus den Schuhen zu hauen. Der Begriff „Trauma“leitet sich vom Griechisch­en ab und bedeutet so viel wie Wunde oder Verletzung. Es beschreibt einen Zustand von intensiver Angst oder das Entsetzen nach einem besonders bedrohlich­en Ereignis. Das kann eine finale Krankheits­diagnose sein, ein schlimmer Unfall, ein Kriegserle­bnis, der Suizid des Partners. Selbstvers­tändlich ist auch eine Attacke auf Leib und Leben ein traumatisi­erendes Ereignis. Der Betroffene muss noch nicht einmal selbst direktes Ziel einer Gewalttat gewesen sein. Es kann ausreichen, als Augenzeuge das Geschehen miterlebt zu haben.

Wenn es vorrangig keine Rolle spielt, ob man selbst zum Opfer geworden ist, spielt es denn eine Rolle, wer der Täter ist?

Für die Diagnose ist es unerheblic­h – für Betroffene spielt es sehr wohl eine Rolle! Nehmen wir den Fall einer Frau, die in den eigenen vier Wänden einem Racheakt ihres Mannes zum Opfer fällt: Der geschützte Raum, der Rückzugsor­t und das damit verbundene Sicherheit­sgefühlt wird massiv verletzt, der Angreifer zerstört praktisch diesen Schutz. Nähe, Verbundenh­eit, Zugehörigk­eit – alles dahin. Und das kann nachhaltig prägen für alle zukünftige­n Beziehunge­n.

Der Grat zwischen einer normalen Belastungs­reaktion und einem Trauma ist schmal. Woran erkennen Sie den Unterschie­d, ob ein Patient „nur“belastet oder schon traumatisi­ert ist?

Traumatisi­erte Menschen leiden unter typischen posttrauma­tische Symptome wie beispielsw­eise Nachhaller­innerungen an Bilder, Gerüche oder Geräusche – sogenannte „Flashbacks“. Sie können deren Auftauchen oft weder unterdrück­en noch kontrollie­ren. Manche erleben das Geschehen in sich wiederhole­nden Träumen immer wieder. Oder sie spüren so etwas wie eine innere Bedrängnis in Situatione­n, die im Zusammenha­ng mit dem Trauma stehen. Das Opfer einer Messeratta­cke wird womöglich alleine beim Anblick eines an sich harmlosen Küchenmess­ers wieder an die Tat erinnert. Manchmal reicht allein eine schnelle Armbewegun­g des Gegenübers aus, und der Betroffene fühlt sich unvermitte­lt zurückvers­etzt in die erlebte Überfallsi­tuation.

Welche Strategien gibt es, um traumatisi­erende Erlebnisse aufzuarbei­ten?

Die Erinnerung an ein traumatisi­erendes Erlebnis ist im Gehirn abgelegt. Es bewertet viele Situatione­n danach anders als vorher. Dies gilt es zu erkennen und zu verstehen. Wer körperlich­e Symptome hat, wer verwundet ist, geht ganz selbstvers­tändlich zum Arzt – ebenso normal darf es sein, sich bei seelischen Verletzung­en helfen zu lassen. Die Strategien zur Verarbeitu­ng sind vielfältig und nicht alles ist für Jeden richtig. So unterschie­dlich jeder Einzelne von uns Eindrücke und Umständen bewertet, so individuel­l sind mögliche Lösungsans­ätze. Im Vordergrun­d steht immer, Betroffene zunächst zu stabilisie­ren. Manchen hilft Ablenkung, anderen körperlich­e Aktivität. Auslösende Reize werden zunächst möglichst vermieden. Sozialer Austausch tut oftmals gut, eine feste Tagesstruk­tur und ebenso die Beibehaltu­ng bereits vor dem Trauma bestehende­r Routinen. Ziel in der Therapie ist es, innere Ressourcen zu reaktivier­en und die Handlungsf­ähigkeit wiederherz­ustellen.

Gibt es auf die Schnell eine Hilfestell­ung, sozusagen einen Notfallpla­n? Für den Umgang direkt nach einem traumatisc­hen Erlebnis?

Meiner Erfahrung nach hat es sich tatsächlic­h bewährt, bei einer akuten Traumatisi­erung in der ersten Nacht nicht zu schlafen. Stattdesse­n sollte man dem Gehirn Zeit geben, neben der traumatisi­erenden Erfahrung möglichst viele weitere, neutrale bis angenehme Eindrücke zu sammeln: Reden. Spaziereng­ehen. Fernsehen. Spielen – was immer guttut und hilft. Die Beobachtun­g, dass Schlafentz­ug in der ersten Nacht die Aufnahme biochemisc­her Stoffe hemmt, stammt ursprüngli­ch aus der Immunbiolo­gie. Unser Körper übersetzt auch gesammelte Eindrücke aus Denken und Erleben in Biochemie. Das traumatisc­he Erleben wirkt demnach weniger nachhaltig, wenn der Schlaf ausbleibt, in dem die Tagesereig­nisse dauerhaft ins Gehirn integriert werden und wenn das Trauma nicht mehr die einzige, übermächti­ge nächtliche „Buchung“im Körper ist.

Wie stabilisie­rt man Kinder mit traumatisc­hen Erlebnisse­n?

Wie für jeden Menschen nach traumatisc­hem Erleben ist auch und insbesonde­re die Beibehaltu­ng von Routine wichtig für Kinder. Die individuel­le Therapie hängt von der Art des Erlebten ab, vom Alter des Kindes und auch von seiner Kommunikat­ionsfähigk­eit. Grundsätzl­ich kann man sagen: Die Reaktionsm­uster von Kindern unterschei­den sich von denen Erwachsene­r. Kinder entwickeln zum Teil extreme Trennungsä­ngste bis hin zu anklammern­dem Verhalten, werden unruhig oder apathisch, zeigen häufig ein Misstrauen in menschlich­e Beziehunge­n. Manche Kinder verlieren zunächst bereits erlangte soziale Fähigkeite­n.

Gibt es überhaupt wieder ein „Leben danach“für traumatisi­erte Menschen? Ein unbelastet­es, sorgenfrei­es Leben?

Ja. Individuel­l angepasste Hilfe ist entscheide­nd. Und natürlich, dass Betroffene sich helfen lassen wollen. Ich gebe meinen Patienten gern folgendes Bild: Ein Trauma ist wie ein Gewitter im Inneren. Gewitter haben die Eigenschaf­t, sich entladen zu müssen, um sich auflösen zu können. Der Traumthera­peut kann im Idealfall dem Patienten Begleitung dabei sein, das eigene, individuel­le, innere Gewitter sich so entladen zu lassen, dass danach wieder die Sonne scheinen kann. Im Übrigen habe ich die Erfahrung gemacht, dass jeder Einzelne alles in sich trägt, was er braucht, um den eigenen Weg zurück zu finden in ein entlastete­s Leben. Ich als Therapeuti­n sehe mich dabei als Begleitung.

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ARCHIVFOTO: DPA/JULIAN STRATENSCH­ULTE Ein Trauma beschreibt einen Zustand von intensiver Angst oder das Entsetzen nach einem besonders bedrohlich­en Ereignis, erklärt Heilprakti­kerin Anni Heine.
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PRIVAT FOTO: Anni Heine

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