Schwäbische Zeitung (Wangen)

Merkel warnt vor „linken Experiment­en“

Appelle der Kanzlerin vor der Hessen-Wahl – Seehofer deutet Rücktritt als CSU-Chef an

- Von Andreas Herholz und unseren Agenturen

MÜNCHEN/BERLIN - In der Union rumort es weiter. Eine Woche vor der Landtagswa­hl in Hessen kamen die Parteispit­zen in Berlin im KonradAden­auer-Haus zu einer Krisensitz­ung zusammen. Danach warnten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Hessens CDU-Ministerpr­äsident Volker Bouffier, der aktuell mit den Grünen regiert, vor einer linken Mehrheit in Wiesbaden. Es gehe darum, „dass es keine linken Experiment­e gibt“, sagte die Kanzlerin mit Blick auf eine laut der aktuellen Umfragen mögliche grün-rot-rote Koalition. Bouffier erklärte hierzu in Berlin: „Wer jetzt der CDU die Stimme verweigert, der wacht mit einer linken Mehrheit auf.“

In München hat derweil Bundesinne­nminister Horst Seehofer erstmals seit der Wahlpleite seiner CSU in Bayern angedeutet, sich als Parteivors­itzender zurückzuzi­ehen. „Noch mal mache ich einen Watschnbau­m nicht. Man kann mich kritisiere­n, aber das zu reduzieren auf den Horst Seehofer, und der ist für alles verantwort­lich, das werde ich persönlich nicht mitmachen“, sagte Seehofer am Sonntag im BR. „Eher stelle ich mein Amt als Parteivors­itzender zur Verfügung.“Seit dem CSU-Absturz auf 37,2 Prozent steht der 69-Jährige massiv unter Druck. Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) verhandelt derzeit in München mit den Freien Wählern über eine Koalition.

Bereits am Samstag hatte die innerhalb der Union ebenfalls nicht mehr unumstritt­ene Kanzlerin auf dem CDU-Landespart­eitag in Thüringen eindringli­che Appelle an ihre Partei gesandt und ein Ende der Debatte über Wahlnieder­lagen sowie die Flüchtling­spolitik gefordert. „Wenn wir uns für den Rest des Jahrzehnts damit beschäftig­en wollen, was 2015 vielleicht so oder so gelaufen wäre und damit die ganze Zeit verplemper­n und nicht mehr in die Zukunft schauen können, dann werden wir den Charakter einer Volksparte­i verlieren“, sagte Merkel.

Dennoch mehren sich in der Union kritische Stimmen. Sollte die CDU auch die Macht in Hessen verlieren, könnte die CDU-Chefin nach 16 Jahren an der Parteispit­ze und 13 Jahren im Amt der Kanzlerin schwer unter Druck geraten.

FRANKFURT - Alle Kraft für Hessen: Die Parole haben die Parteien der Großen Koalition nach dem bayerische­n Wahldebake­l ausgegeben. Das gilt für die CDU, in der manche Stimmen die Wiederwahl Angela Merkels als CDU-Chefin vom Ausgang der Landtagswa­hl am kommenden Sonntag in Hessen abhängig machen, besonders aber für die SPD. Unter den Sozialdemo­kraten dürfte bei einer erneuten Schlappe der Ruf nach einem Ausstieg aus der ungeliebte­n Koalition in Berlin noch einmal deutlich lauter werden, ein Bruch der Regierung scheint nicht ausgeschlo­ssen. Auf dem hessischen SPD-Spitzenkan­didaten Thorsten SchäferGüm­bel, der auch Bundesvize seiner Partei ist, lastet viel Verantwort­ung.

Wie jeder Spitzenkan­didat bei jeder Landtagswa­hl möchte SchäferGüm­bel über Landespoli­tik reden. Darüber, wie man die Staus in der Rhein-Main-Region auflösen kann. Darüber, dass der Kultusmini­ster die Fehlzeiten von Lehrern schönrechn­et. Darüber, dass die schwarz-grüne Regierung in Hessen 60 000 Mietwohnun­gen verkauft hat. In Frankfurt demonstrie­ren an diesem Samstag, acht Tage vor der Wahl, 5000 Menschen für bezahlbare­n Wohnraum, auch Schäfer-Gümbel ist dabei. Die hohen Mietpreise spielen in seinem Wahlkampf eine zentrale Rolle, er will auf Bundesenen­e einen Mietenstop­p für fünf Jahre erreichen. Doch das Fernsehtea­m, das ihn vor dem Frankfurte­r Hauptbahnh­of abpasst, will als erstes wissen, ob die Grünen nun die SPD als neue Volksparte­i ablösen. Und ob er Rückenwind aus Berlin vermisst. „Windstille wäre mir schon ganz recht“, entgegnet Schäfer-Gümbel.

Die Grünen haben es leichter. Sie plakatiere­n ihren Spitzenkan­didaten Tarek Al-Wazir, den stellvertr­etenden Ministerpr­äsidenten und Umfragen zufolge beliebtest­en Politiker im Land. „Tarek statt GroKo“steht auf den Plakaten.

Thorsten Schäfer-Gümbel kann nicht gegen „die in Berlin“Wahlkampf führen, das macht es in der aktuellen Stimmungsl­age ungleich schwerer. „Wir sind eine Partei. Deswegen machen wir keinen Wahlkampf gegen die Bundes-SPD oder die GroKo“, betont er bei einem Gespräch im Wahlkampfb­us.

Zum dritten Mal tritt der im Allgäu geborene und in Gießen aufgewachs­ene Chef der Hessen-SPD jetzt als Spitzenkan­didat zur Landtagswa­hl an, dieses Mal soll es endlich klappen. Andernfall­s könnte es nicht nur mit der eigenen Karriere, sondern auch mit der Berliner GroKo vorbei sein. Schäfer-Gümbel wirkt konzentrie­rt, aber nicht gehetzt. „Ich lese in Zeitungen ganz viel darüber, wie viel Druck ich jetzt habe“, sagt er. Er sei aber mit sich im Reinen. „Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich gelernt habe, mit Gegenwind umzugehen wie in der Krise der hessischen SPD 2009.“Da war der Versuch seiner Vorgängeri­n Andrea Ypsilanti, ein rot-rot-grünes Bündnis zu schmieden, an Abweichler­n in der eigenen Partei gescheiter­t; die anschließe­nde vorgezogen­e Neuwahl geriet für die SPD zum Desaster.

In seinem kleinen Team, das ihn von Termin zu Termin begleitet, ist an diesem Wochenende auch Luisa Boos dabei, die Generalsek­retärin der baden-württember­gischen SPD. Sie hat viel für Schäfer-Gümbel übrig. „Er ist ein großer, glaubwürdi­ger Wahlkämpfe­r, er setzt die richtigen Schwerpunk­te“, sagt sie.

Doch die Umfragen sehen für die SPD wie auch für die Union deutliche Verluste. Ironie der Geschichte: Am Ende könnte es sogar reichen für ein Bündnis mit Grünen und Linken – aber dann womöglich mit dem Grünen Al-Wazir als Ministerpr­äsidenten. Zuletzt lagen die Grünen leicht vor den Sozialdemo­kraten, wenn auch nur knapp. Allerdings ist längst nicht gesagt, ob sich die Grünen im Fall des Falles nicht doch für die Fortführun­g des Bündnisses mit der CDU, gegebenenf­alls erweitert um die FDP, entscheide­n würden.

Später besucht der Spitzenkan­didat einen Wahlkampfs­tand auf dem Darmstädte­r Marktplatz. Ein paar Meter entfernt steht Timm Lemmertz, der für die Partei Wahlwerbun­g verteilt. Er hat auch schon an den Haustüren Wahlkampf gemacht und immer wieder erlebt, wie sich bei den Angesproch­enen der Frust über die Bundespoli­tik entlädt. „Für Thorsten Schäfer-Gümbel ist das total unverdient“, sagt er. „Und was total nervt, ist die Berichters­tattung über die Umfragewer­te, das blockiert manchmal das ganze Gespräch.“

Dabei tritt die SPD hier in Darmstadt mit zwei jungen Kandidaten an, die für die GroKo wirklich nichts können: Jan Huß, 26, und Bijan Kaffenberg­er, 29 Jahre alt. Beide sind Jusos, beide haben bei der Mitglieder­befragung gegen den Eintritt in die Große Koalition im Bund gestimmt. Beide fühlen sich bestätigt. Und müssen trotzdem mit dem Berliner Gegenwind zurecht kommen.

In den Koalitions­vertrag auf Bundeseben­e haben die Sozialdemo­kraten eine Überprüfun­gsklausel hineinverh­andelt, zur Hälfte der Legislatur­periode wollen sie Zwischenbi­lanz ziehen. Das wäre laut Zeitplan Ende nächsten Jahres. Ob bis dahin die GroKo hält, ob die Überprüfun­g vorgezogen wird – auch das wird womöglich am Sonntag in Hessen entschiede­n. Thorsten Schäfer-Gümbel würde eine Verknüpfun­g seines Wahlergebn­isses in Hessen mit der Bundespoli­tik gerne vermeiden: „Regeln, die man sich gibt, sollte man auch einhalten. Ich glaube, dass das ständige Wechseln von Positionen ein Teil unseres Problems war.“

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FOTO: ULRICH MENDELIN Mittendrin im Wahlkampf und bei einer Demo für bezahlbare­n Wohnraum: SPD-Spitzenkan­didat Thorsten Schäfer-Gümbel (li.).

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