Merkel warnt vor „linken Experimenten“
Appelle der Kanzlerin vor der Hessen-Wahl – Seehofer deutet Rücktritt als CSU-Chef an
MÜNCHEN/BERLIN - In der Union rumort es weiter. Eine Woche vor der Landtagswahl in Hessen kamen die Parteispitzen in Berlin im KonradAdenauer-Haus zu einer Krisensitzung zusammen. Danach warnten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Hessens CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier, der aktuell mit den Grünen regiert, vor einer linken Mehrheit in Wiesbaden. Es gehe darum, „dass es keine linken Experimente gibt“, sagte die Kanzlerin mit Blick auf eine laut der aktuellen Umfragen mögliche grün-rot-rote Koalition. Bouffier erklärte hierzu in Berlin: „Wer jetzt der CDU die Stimme verweigert, der wacht mit einer linken Mehrheit auf.“
In München hat derweil Bundesinnenminister Horst Seehofer erstmals seit der Wahlpleite seiner CSU in Bayern angedeutet, sich als Parteivorsitzender zurückzuziehen. „Noch mal mache ich einen Watschnbaum nicht. Man kann mich kritisieren, aber das zu reduzieren auf den Horst Seehofer, und der ist für alles verantwortlich, das werde ich persönlich nicht mitmachen“, sagte Seehofer am Sonntag im BR. „Eher stelle ich mein Amt als Parteivorsitzender zur Verfügung.“Seit dem CSU-Absturz auf 37,2 Prozent steht der 69-Jährige massiv unter Druck. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verhandelt derzeit in München mit den Freien Wählern über eine Koalition.
Bereits am Samstag hatte die innerhalb der Union ebenfalls nicht mehr unumstrittene Kanzlerin auf dem CDU-Landesparteitag in Thüringen eindringliche Appelle an ihre Partei gesandt und ein Ende der Debatte über Wahlniederlagen sowie die Flüchtlingspolitik gefordert. „Wenn wir uns für den Rest des Jahrzehnts damit beschäftigen wollen, was 2015 vielleicht so oder so gelaufen wäre und damit die ganze Zeit verplempern und nicht mehr in die Zukunft schauen können, dann werden wir den Charakter einer Volkspartei verlieren“, sagte Merkel.
Dennoch mehren sich in der Union kritische Stimmen. Sollte die CDU auch die Macht in Hessen verlieren, könnte die CDU-Chefin nach 16 Jahren an der Parteispitze und 13 Jahren im Amt der Kanzlerin schwer unter Druck geraten.
FRANKFURT - Alle Kraft für Hessen: Die Parole haben die Parteien der Großen Koalition nach dem bayerischen Wahldebakel ausgegeben. Das gilt für die CDU, in der manche Stimmen die Wiederwahl Angela Merkels als CDU-Chefin vom Ausgang der Landtagswahl am kommenden Sonntag in Hessen abhängig machen, besonders aber für die SPD. Unter den Sozialdemokraten dürfte bei einer erneuten Schlappe der Ruf nach einem Ausstieg aus der ungeliebten Koalition in Berlin noch einmal deutlich lauter werden, ein Bruch der Regierung scheint nicht ausgeschlossen. Auf dem hessischen SPD-Spitzenkandidaten Thorsten SchäferGümbel, der auch Bundesvize seiner Partei ist, lastet viel Verantwortung.
Wie jeder Spitzenkandidat bei jeder Landtagswahl möchte SchäferGümbel über Landespolitik reden. Darüber, wie man die Staus in der Rhein-Main-Region auflösen kann. Darüber, dass der Kultusminister die Fehlzeiten von Lehrern schönrechnet. Darüber, dass die schwarz-grüne Regierung in Hessen 60 000 Mietwohnungen verkauft hat. In Frankfurt demonstrieren an diesem Samstag, acht Tage vor der Wahl, 5000 Menschen für bezahlbaren Wohnraum, auch Schäfer-Gümbel ist dabei. Die hohen Mietpreise spielen in seinem Wahlkampf eine zentrale Rolle, er will auf Bundesenene einen Mietenstopp für fünf Jahre erreichen. Doch das Fernsehteam, das ihn vor dem Frankfurter Hauptbahnhof abpasst, will als erstes wissen, ob die Grünen nun die SPD als neue Volkspartei ablösen. Und ob er Rückenwind aus Berlin vermisst. „Windstille wäre mir schon ganz recht“, entgegnet Schäfer-Gümbel.
Die Grünen haben es leichter. Sie plakatieren ihren Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir, den stellvertretenden Ministerpräsidenten und Umfragen zufolge beliebtesten Politiker im Land. „Tarek statt GroKo“steht auf den Plakaten.
Thorsten Schäfer-Gümbel kann nicht gegen „die in Berlin“Wahlkampf führen, das macht es in der aktuellen Stimmungslage ungleich schwerer. „Wir sind eine Partei. Deswegen machen wir keinen Wahlkampf gegen die Bundes-SPD oder die GroKo“, betont er bei einem Gespräch im Wahlkampfbus.
Zum dritten Mal tritt der im Allgäu geborene und in Gießen aufgewachsene Chef der Hessen-SPD jetzt als Spitzenkandidat zur Landtagswahl an, dieses Mal soll es endlich klappen. Andernfalls könnte es nicht nur mit der eigenen Karriere, sondern auch mit der Berliner GroKo vorbei sein. Schäfer-Gümbel wirkt konzentriert, aber nicht gehetzt. „Ich lese in Zeitungen ganz viel darüber, wie viel Druck ich jetzt habe“, sagt er. Er sei aber mit sich im Reinen. „Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich gelernt habe, mit Gegenwind umzugehen wie in der Krise der hessischen SPD 2009.“Da war der Versuch seiner Vorgängerin Andrea Ypsilanti, ein rot-rot-grünes Bündnis zu schmieden, an Abweichlern in der eigenen Partei gescheitert; die anschließende vorgezogene Neuwahl geriet für die SPD zum Desaster.
In seinem kleinen Team, das ihn von Termin zu Termin begleitet, ist an diesem Wochenende auch Luisa Boos dabei, die Generalsekretärin der baden-württembergischen SPD. Sie hat viel für Schäfer-Gümbel übrig. „Er ist ein großer, glaubwürdiger Wahlkämpfer, er setzt die richtigen Schwerpunkte“, sagt sie.
Doch die Umfragen sehen für die SPD wie auch für die Union deutliche Verluste. Ironie der Geschichte: Am Ende könnte es sogar reichen für ein Bündnis mit Grünen und Linken – aber dann womöglich mit dem Grünen Al-Wazir als Ministerpräsidenten. Zuletzt lagen die Grünen leicht vor den Sozialdemokraten, wenn auch nur knapp. Allerdings ist längst nicht gesagt, ob sich die Grünen im Fall des Falles nicht doch für die Fortführung des Bündnisses mit der CDU, gegebenenfalls erweitert um die FDP, entscheiden würden.
Später besucht der Spitzenkandidat einen Wahlkampfstand auf dem Darmstädter Marktplatz. Ein paar Meter entfernt steht Timm Lemmertz, der für die Partei Wahlwerbung verteilt. Er hat auch schon an den Haustüren Wahlkampf gemacht und immer wieder erlebt, wie sich bei den Angesprochenen der Frust über die Bundespolitik entlädt. „Für Thorsten Schäfer-Gümbel ist das total unverdient“, sagt er. „Und was total nervt, ist die Berichterstattung über die Umfragewerte, das blockiert manchmal das ganze Gespräch.“
Dabei tritt die SPD hier in Darmstadt mit zwei jungen Kandidaten an, die für die GroKo wirklich nichts können: Jan Huß, 26, und Bijan Kaffenberger, 29 Jahre alt. Beide sind Jusos, beide haben bei der Mitgliederbefragung gegen den Eintritt in die Große Koalition im Bund gestimmt. Beide fühlen sich bestätigt. Und müssen trotzdem mit dem Berliner Gegenwind zurecht kommen.
In den Koalitionsvertrag auf Bundesebene haben die Sozialdemokraten eine Überprüfungsklausel hineinverhandelt, zur Hälfte der Legislaturperiode wollen sie Zwischenbilanz ziehen. Das wäre laut Zeitplan Ende nächsten Jahres. Ob bis dahin die GroKo hält, ob die Überprüfung vorgezogen wird – auch das wird womöglich am Sonntag in Hessen entschieden. Thorsten Schäfer-Gümbel würde eine Verknüpfung seines Wahlergebnisses in Hessen mit der Bundespolitik gerne vermeiden: „Regeln, die man sich gibt, sollte man auch einhalten. Ich glaube, dass das ständige Wechseln von Positionen ein Teil unseres Problems war.“