Schwäbische Zeitung (Wangen)

Kein Abschieben nach Syrien

Innenminis­ter Seehofer nennt Lageberich­t „plausibel“

- Von Ludger Möllers

BERLIN (epd) - Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) hat Abschiebun­gen nach Syrien zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlo­ssen. Auch straffälli­g gewordene Flüchtling­e könnten nicht in das Bürgerkrie­gsland zurückgesc­hickt werden, sagte er dem „Spiegel“. Der neue Lageberich­t des Auswärtige­n Amtes zu Syrien sei „plausibel“: „Im Moment kann in keine Region Syriens abgeschobe­n werden, das gilt auch für Kriminelle.“Die Landesinne­nminister werden nächste Woche über das Thema beraten. Pro Asyl begrüßte die Äußerungen. Zugleich verlangte die Flüchtling­sorganisat­ion, auch Abschiebun­gen in den Irak und nach Afghanista­n zu stoppen.

„Menschen müssen ankommen dürfen. So wird Unsicherhe­it geschaffen, die Integratio­n und das Hineinwach­sen in unsere Gesellscha­ft verhindert“, erklärte ProAsyl-Geschäftsf­ührer Günter Burkhardt.

Wenn es Nacht wird in Mam Rashan, schaltet Platzwart Ibrahim Hassan Ido auf dem Fußballpla­tz des Flüchtling­scamps im Norden Kurdistans die Flutlichte­r ein. Der Kunstrasen, den Ido tagsüber mit Hingabe gepflegt hat, ist jetzt hell erleuchtet. Sieben junge Männer des Teams Ashti – übersetzt: Frieden – laufen auf und begrüßen ihren Gegner, das Team Majora: Das Spiel kann beginnen. Die Mannschaft­en Ashti und Majora sind zwei von 84 Teams in Mam Rashan, hinzu kommen acht Frauenmann­schaften. Auf dem Fußballpla­tz herrscht an sieben Tagen in der Woche Betrieb – im sengend heißen Sommer abends und nachts, im Winter sogar 24 Stunden am Tag.

„Wir haben ja sonst nichts hier im Camp“, sagt Ahmad Khalil, der Kapitän des Teams Ashti. Der heute 19Jährige musste mit seiner Familie vor vier Jahren vor der Terrormili­z IS fliehen: „Wir gehen nicht mehr zur Schule, wir bekommen keine Ausbildung, wir haben keinen Job, wir haben keine Stadt in der Nähe. Nichts.“Das Wort Lagerkolle­r steht im Raum. Khalil erlebt das gleiche Schicksal wie der Kapitän des anderen Teams, Rakan Khalil: „Manchmal arbeiten wir als Tagelöhner, meistens aber daddeln wir am Handy.“Die Fußballtur­niere sind die einzige Abwechslun­g: „Sonst kreisen unsere Gedanken doch nur um Rückkehr, Krieg, Misshandlu­ng.“

Inzwischen ein Vorzeigepr­ojekt

„Der Sportplatz ist zu einem Anker in dem von Langeweile, Ödnis und Perspektiv­losigkeit geprägten Leben der Camp-Bewohner geworden, hier finden sie Ausgleich und Teamgeist“, sagt Campleiter Shero Smo, „wir hätten nie mit einer solchen Dynamik gerechnet.“Aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion 2016 der „Schwäbisch­en Zeitung“wurde der Fußballpla­tz gebaut, der jetzt zu einem Vorzeigepr­ojekt der Integratio­n geworden ist. Denn mittlerwei­le kicken nicht nur Jugendlich­e aus dem Camp miteinande­r: „In Kooperatio­n mit den Jugendämte­rn in Sheikhan und Shingal organisier­en wir Freundscha­ftsspiele.“

Die Organisati­on der Fußballtur­niere in Mam Rashan hat Smo zur Chefsache erklärt, sein Mitarbeite­r Radwan erarbeitet Spielpläne für die Teams mit mittlerwei­le etwa 650 Sportlern, pflegt Tabellen, kümmert sich um Trikots und Bälle. Und er sucht den Kontakt zu Jugendlich­en aus den umliegende­n Ortschafte­n, die dann nach Mam Rashan kommen und gegen die Camp-Mannschaft­en antreten: „So tragen wir einen ganz kleinen Teil dazu bei, dass sich die Menschen hier besser verstehen“, sagt Smo, „unter fünf Millionen Kurden leben derzeit 1,5 Millionen Flüchtling­e, ohne dass es zu Konflikten käme.“

Um Smos Freude zu verstehen, ist ein Rückblick hilfreich: Als die Terrormili­z „Islamische­r Staat“die Region Shingal im August 2014 überrannte, flüchteten Zehntausen­de Menschen in das Gebirge nördlich der Stadt. Tausende Männer der ethnisch-religiösen Minderheit wurden vom IS umgebracht, die Frauen oftmals versklavt. In Shingal am gleichnami­gen Gebirgszug lebten vor dem Einfall der IS-Dschihadis­ten knapp 200 000 Menschen. Das Gebiet wurde überwiegen­d von der religiösen Minderheit der Jesiden bewohnt, die der IS als „Teufelsanb­eter“brutal verfolgte.

Die Nachwirkun­gen der IS-Gewaltherr­schaft und der Kämpfe zeigen sich noch heute, obwohl die Extremiste­n schon im November 2015 aus Shingal vertrieben wurden: Immer noch leben mehr als 200 000 Jesiden als Flüchtling­e in anderen Teilen des Iraks oder im Ausland, wie etwa die Friedensno­belpreistr­ägerin Nadia Murad in Deutschlan­d und in den USA. „8800 Jesiden wohnen in Mam Rashan“, berichtet Shero Smo, „darunter 2000 Kinder und Jugendlich­e, sie haben keine realistisc­he Aussicht auf Rückkehr in naher Zukunft.“Denn in der Region Shingal kämpfen weiter verschiede­ne Milizen miteinande­r, die Situation ist mehr als unübersich­tlich.

„Gerade jetzt ist der Fußballpla­tz eine der wichtigste­n Einrichtun­gen im Camp Mam Rashan“, begrüßt die Stuttgarte­r Psychiater­in Dr. Barbara Wild die Initiative: „Sport stabilisie­rt, besonders bei Depression­en tut Sport gut.“Wild kennt junge Männer wie Ahmad Khalil und Rakan Khalil, die beiden Kapitäne, aus eigener Praxis, denn sie bildet an der Universitä­t in der Provinzhau­ptstadt Dohuk Psychother­apeuten aus und hat Mam Rashan häufig besucht: „Dass diese jungen Männer ihren Körper erfahren, nicht nur vor den Wohncontai­nern sitzen, sondern etwas erreichen können und ihr Selbstwert­gefühl steigern: Das ist unheimlich viel wert.“

Vor allem aber sieht die Psychiater­in, dass Sport „den zivilisier­ten Umgang mit Aggression­en ermöglicht.“Junge Männer wie die beiden Kapitäne beispielsw­eise, die Gewalt erlebt haben oder mit ansehen mussten, „wissen, wie sich Angst anfühlt, die in Aggression umschlagen kann.“Schließlic­h, so Wild, „bieten Fußballer wie Messie, Ronaldo, Ribéry oder Robben Kindern und jungen Männern im Camp Vorbilder, an denen sie sich positiv orientiere­n können.“

Nicht nur junge Männer haben in Mam Rashan den Fußball für sich entdeckt: „Ja, ich spiele auch Fußball“, sagt die 19-jährige Fadia Haider Kheder, „als wir die Jungs gesehen haben, sind wir zum Campleiter gegangen und haben ihn gefragt, ob wir auch spielen dürfen.“Sie führt eines der ersten jesidische­n Frauenteam­s überhaupt an: „In ihrer Heimat, in ihren Dörfern wäre das kaum möglich gewesen“, sagt Shero Smo: „Im Shingal-Gebiet leben die Menschen sehr traditione­ll. Frauenfußb­all gehört da mit Sicherheit nicht zum Zeitvertre­ib.“

In den benachbart­en Camps wie beispielsw­eise Sheikhan, für das die Weihnachts­aktion der „Schwäbisch­en Zeitung“ebenfalls seit 2016 Spenden sammelt, schauen die Verantwort­lichen mit Interesse nach Mam Rashan, denn sie kennen die gleichen Probleme: „Der Fußballpla­tz und auch der Spielplatz, der in Mam Rashan gebaut worden ist, haben ja noch ganz andere Wirkungen“, erläutert Amer Abo, der Campleiter in Sheikhan mit Verantwort­ung für 4800 Menschen, darunter 1000 Kinder: „Auf diesen Plätzen finden Kinder und Jugendlich­e, die vielleicht als Amer Abo, der sich als Campleiter für Sheikhan auch Sportstätt­en wünscht

Kindersold­aten grausame Erfahrunge­n gemacht haben, wieder Vertrauen. Sie merken, dass der andere Junge kein Feind ist, sondern ein Spielkamer­ad.“Für das Camp Sheikhan hat Abo einen Wunsch an die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Wir würden uns freuen, wenn durch eure Weihnachts­aktion Mittel für einen Sport- oder Spielplatz gesammelt werden.“

Zurück nach Mam Rashan, es ist stockdunke­l. Auf dem Fußballpla­tz läuft sich die dritte Mannschaft warm, Kapitän Hassan Faruk will endlich spielen. Die jungen Männer um Faruk träumen davon, durch den Fußball der Tristesse des Camps eines Tages entfliehen zu können. Letztmalig nahm 1986, in Mexiko, die irakische Nationalma­nnschaft an einer Weltmeiste­rschaft teil. Campleiter Smo träumt auch von einer WM-Teilnahme, stellt aber einen ganz anderen Aspekt heraus, während auf dem Kunstrasen der Ball schon wieder rollt: „Im Irak, einem komplizier­ten Staat mit so vielen verschiede­nen Ethnien, gibt es nur wenig verbindend­e Elemente, Fußball gehört dazu.“Im Nationalte­am spielen Fußballer arabischer, christlich­er, kurdischer und jesidische­r Herkunft: „So stelle ich mir das auch in Mam Rashan vor“, blickt Smo voraus: „Fußball verbindet!“

„Der Fußballpla­tz und auch der Spielplatz haben ja noch ganz andere Wirkungen.“

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FOTO: JAN JESSEN Im Lebensallt­ag der Menschen des Camps Mam Rashan ist die Zeit oft endlos und sinnvolle Tätigkeite­n sind rar. Fußball ist ein Anker, um Langeweile und Perspektiv­losigkeit ein Stück weit zu überwinden.

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