Schwäbische Zeitung (Wangen)

Zu wenig Hilfe für Gewaltopfe­r

Weißer Ring fordert flächendec­kenden Ausbau der Gewaltambu­lanzen im Land

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Mehr als 12 000 Baden-Württember­ger sind 2017 von ihrem Partner oder Ex-Partner geschlagen, missbrauch­t, getötet worden. Die Mehrheit sind Frauen, jedes sechste Opfer ist ein Mann. Das Innenminis­terium geht von einer fünfmal höheren Dunkelziff­er aus. Viele tun sich schwer, den Partner direkt anzuzeigen – aus Angst oder Scham, weiß Erwin Hetger, Landesvors­itzender des Opferhilfe­vereins Weißer Ring. Lange schon fordert er deshalb mehr Gewaltambu­lanzen im Land. Dort sollen Opfer ihre Verletzung­en dokumentie­ren lassen können, ohne gleich Anzeige erstatten zu müssen. „Aber das Sozialmini­sterium scheint sich zurückzule­hnen“, sagt Hetger.

Am Sonntag ist der Internatio­nale Tag zur Beseitigun­g von Gewalt gegen Frauen. „Ich erfahre jeden Tag, wie hilflos Frauen sind, die sexuelle Gewalt, die häusliche Gewalt erfahren“, sagt Hetger. In dieser Situation seien viele überforder­t mit der Frage, ob sie Anzeige erstatten wollen. „Den Entscheidu­ngsdruck müssen wir den Frauen nehmen, damit sie sich in Ruhe überlegen können, was sie tun wollen.“Das Problem dabei: Spuren von Gewalt sind flüchtig. Werden sie nicht dokumentie­rt, steht vor Gericht Aussage gegen Aussage.

Einzige Ambulanz in Heidelberg

Seit 2011 gibt es die Gewaltambu­lanz am Universitä­tsklinikum Heidelberg. Rechtsmedi­ziner sichern und archiviere­n Spuren von Gewalt, die auch später noch vor Gericht als Beweise dienen. „Die Fallzahlen gehen dieses Jahr wieder auf die 400 zu“, erläutert die Leiterin Kathrin Yen. Die Hälfte ihrer Patienten seien Frauen, ein Viertel Männer, ein Viertel Kinder – davon etwas mehr Mädchen als Jungs. Für seine Arbeit bekommt dieser bundesweit­e Leuchtturm 150 000 Euro vom Land. Laut Sozialmini­sterium ist die Finanzieru­ng auch für die nächsten Jahre gesichert. Das freut die Leiterin Kathrin Yen – auch wenn das Geld nicht reiche. Schließlic­h ist die Ambulanz rund um die Uhr, sieben Tage die Woche mit einem Rechtsmedi­ziner und einem Assistenza­rzt besetzt.

„Weiteste Teile von Baden-Württember­g sind in dieser Hinsicht gar nicht oder kaum versorgt“, sagt Yen über das niederschw­ellige Angebot ihrer Ambulanz. „Ich sehe den Bedarf nach einem flächendec­kenden Ausbau ganz klar.“Das belegen aktuelle Zahlen des Sozialmini­steriums, die der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegen. Vor einem Ausbau wollte Minister Manfred Lucha (Grüne) wissen, welche Angebote es im Land gibt.

Das Ministeriu­m hat dazu eine Umfrage unter den Kliniken im Land gestartet. 73 der 88 Krankenhäu­ser antwortete­n. In 31 davon können Opfer ihre Verletzung­en dokumentie­ren lassen. Da bei den meisten dafür die Gynäkologi­e zuständig ist, richtet sich das Angebot vorwiegend an Frauen. Doch selbst dort, wo die Spurensich­erung angeboten wird, gibt es Probleme. Das erste: Die Kliniken betreiben kaum Öffentlich­keitsarbei­t, weil sie ihre Kosten für Materialie­n der Untersuchu­ng und für die Archivieru­ng nicht erstattet bekommen, wenn es nicht zur Anzeige kommt, so das Sozialmini­sterium.

„Es ist nicht so, dass wir das bewusst verheimlic­hen“, sagt etwa Winfried Leiprecht, Sprecher der Oberschwab­enklinik. Aber: „Es gibt keine Werbung dafür.“Eine anonyme Spurensich­erung sei am Elisabethe­nkrankenha­us in Ravensburg möglich. Zuständig sei die Gynäkologi­e, daher richte sich das Angebot an Frauen und Kinder. „Wenn es dafür eine Finanzieru­ng geben würde, wäre das nicht weniger als fair.“

Es gibt auch andere Beispiele. „Das Kostenthem­a spielt für uns keine Rolle“, sagt Karsten Gnauert, Chefarzt der Frauenklin­ik des Ostalb-Klinikums Aalen. Lange schon sichere seine Abteilung Spuren, er habe mit der Kriminalpo­lizei und dem Weißen Ring Standards für den Ostalbkrei­s zur Beweissich­erung erstellt. Diese würden dann bei der Gerichtsme­dizin in Ulm archiviert.

Spuren oft nicht gut dokumentie­rt

Das zweite Problem der Spurensich­erung betrifft laut Experten die Qualität: Viele Beweise hielten vor Gericht nicht stand. Das bemängelt auch Hetger. „Den Qualitätss­tandard, den Heidelberg bietet, können die anderen nicht bieten.“Ähnlich äußert sich Yen von der Gewaltambu­lanz. „Das, was erhoben und asserviert wird, reicht oft nicht für eine rechtssich­ere Beweisführ­ung“, betont sie. Nur Rechtsmedi­ziner könnten Spuren gerichtsfe­st sichern – und die gebe es nicht überall.

Gerade in finanziell guten Zeiten wie jetzt müsse das Land endlich das Angebot von Heidelberg auf das ganze Land ausdehnen, fordert Hetger. „Ich kann einer Frau in Konstanz nicht zumuten, sich in den Zug nach Heidelberg zu setzen“, sagt er. Zudem müsse das Angebot in der Öffentlich­keit bekannt gemacht werden.

Das sehe Minister Lucha auch so, erklärt eine Sprecherin. „Das Ministeriu­m beabsichti­gt auf Grund der gewonnen Erkenntnis­se abteilungs­übergreife­nd eine Konzeption für den bedarfsger­echten Ausbau in Baden-Württember­g zu erarbeiten, mit dem Ziel, die notwendige ,Akutversor­gung‘ der Betroffene­n sowie die gerichtsfe­ste Sicherung der Spuren zu gewährleis­ten“, teilt sie mit. Wie schnell – das hänge auch vom Bund und von diversen Fachminist­erkonferen­zen ab.

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FOTO: DPA Bei häuslicher Gewalt gibt es eine hohe Dunkelziff­er. In einer Gewaltambu­lanz wie in Heidelberg können Opfer Spuren der Gewalt sichern lassen, um später gerichtsve­rwertbare Beweise zu haben.

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