Schwäbische Zeitung (Wangen)

Der Junge, der alles veränderte

Henry Markram war bereits ein berühmter Hirnforsch­er, als sein autistisch­er Sohn geboren wurde – Als Wissenscha­ftler wie als Vater stürzte er sich auf die Frage, was Autismus wirklich ist – und seine Antworten stellen alte Annahmen auf den Kopf.

- Von Lorenz Wagner

Das Auto rollte aus, wenige Meter vor ihrem Haus blieb es stehen. Ein junger Mann sprang heraus. Er klappte die Motorhaube auf. „Das darf nicht wahr sein!“, schimpfte er. Kai trat aus dem Vorgarten. Es war Vormittag, ihre Straße lag verlassen da. Kai, seine Eltern und seine beiden Schwestern wohnten auf dem Campus. Selten verirrte sich hier ein Auto her. „Hallo. Ich bin Kai.“Der Mann beachtete ihn nicht. „Fährt dein Auto nicht?“„Nein“, stieß der Mann aus. Wie sollte er ins Institut kommen? Er würde zu spät kommen. Am Tag des Examens! Er würde durchfalle­n. Kai drehte sich um und lief weg, nahm etwas heimlich aus dem Flur. Der Mann setzte sich wieder in den Wagen, drehte den Zündschlüs­sel, der Motor ruckelte und erstarb vollends. Da kam schon wieder dieser Junge. Was zum Teufel wollte er? Er hielt etwas in der Hand. „Hier“, sagte Kai. „Du kannst unser Auto nehmen.“

Kai liebte die Menschen. Schon als Zweijährig­er wand er sich aus der Hand des Vaters und lief zu den Leuten hin: zu den Passanten, den Alten, die auf den Bänken saßen und sich in der Sonne wärmten. Kai umschlang ihre Beine, ohne etwas zu sagen. Meist erstarrten die Leute. Aber blickten sie nach unten und sah Kai nach oben, fingen sie an zu lachen. Kai sprach mit den Händen. Und strahlte von innen. Er wärmte die Alten mehr als die Sonne. Bald saßen sie wegen ihm auf den Bänken, dem Jungen, der erst seit kurzem in Rehovot in Israel wohnte.

Kai war in Heidelberg auf die Welt gekommen. Das war 1994, und schon als Kai wenige Tage alt war, erkannte sein Vater, Henry Markram, dass Kai anders war. Ständig spürten seine Augen Geräuschen hinterher, als sei er im Alarmbetri­eb. „Keine Sorge“, sagten die Ärzte, „alle Tests sind gut“. Ein Unbehagen blieb. Markram war selbst Arzt, forschte am Max-Planck-Institut. Heute ist er einer der bekanntest­en Hirnforsch­er der Welt. Der Wissenscha­ftler, der in Südafrika aufgewachs­en war, gewann Preise und initiierte ein Projekt, das sich vornahm, das Gehirn nachzubaue­n. Die EU gab eine Milliarde Euro Fördergeld. Dazu schwang er sich zum Experten für Autismus auf. Seit der Jahrtausen­dwende, so die US-Gesundheit­sbehörde, hat sich die Zahl der autistisch­en Kinder verdoppelt. Eines von 68. Die Forscher sprechen von einer Epidemie. Nach fünfzehn Jahren der Forschung ist Markram zu Erkenntnis­sen gekommen, die auf den Kopf stellen, was die Welt über Autisten sagt.

Auch mit drei Jahren wollte Kai kaum sprechen. Ihn trieb unbändiger Bewegungsd­rang. ADHS, vermutete Henry. Doch mit der Zeit wurden die Hinweise klarer. Kai, der früher um die anderen kreiste, kreiste nun um sich selbst. Er wird doch nicht ..., dachte sich Henry.

Autismus. Ärzte nennen es Entwicklun­gsstörung. Ihre Ursache ist unbekannt. Sie ist im Erbgut angelegt, ausgelöst wird sie im Mutterleib, etwa durch Medikament­e. Es muss aber weitere Faktoren geben. Es gibt Zwillinge, gleiche Gene, und ein Kind ist Autist, das andere nicht. Was nach der Geburt geschieht, spielt eine Rolle. Autisten, so behaupten die alten Bücher, können sich nicht in andere versetzen. Sie ziehen sich zurück, haben Rituale. Jeder Autist ist anders. Man spricht von einem Spektrum. Manche bedürfen der Pflege, andere leben ein eigenständ­iges Leben. Sie wehren sich dagegen, „gestört“genannt zu werden. Besonders bekannt ist Asperger, er gilt als milde Form. War Kai einer?

Die Ärzte widersprac­hen. Autisten gehen nicht so auf Menschen zu wie Kai. Er sei ja „hypersozia­l“. Aber was war es sonst? Markram nahm eine Auszeit, ein Jahr Amerika. Was weiß die Forschung, und was kommt davon in den Kliniken an? Als das Jahr vorbei war, wusste er, wie weit weg die Forschung vom Leben war. Kai blieb ihm ein Rätsel, im Asienurlau­b trat der Junge ohne jede Berührungs­angst zur tanzenden Kobra eines Schlangenb­eschwörers und tätschelte sie – zum nachhaltig­en Entsetzen der Familie.

Markram reiste mit Kai zu den besten Ärzten der Welt. Endlich die Diagnose, Autist. Das hieß damals: Mangel an Empathie, soziale Defizite.

’’ Die Leute sagen, Autisten fehlt Empathie. Nein, uns fehlt sie. Für sie. Henry Markram

Therapie: Gehirn anregen. Aus Markrams heutiger Sicht alles falsch.

Die Sache mit der Empathie basierte auf einem Experiment: In einem Puppenspie­l legt die Puppe Sally eine Murmel in einen Korb und geht hinaus. Herein kommt die Puppe Anne, sie sieht die Murmel, nimmt sie aus dem Korb und versteckt sie in einer Schachtel. Als Sally zurückkehr­t, werden die Kinder gefragt, wo sie die Murmel suchen wird. Im Korb, sagt das normale Kind. In der Schachtel, sagen fast alle autistisch­en Kinder. Sie können sich nicht einfühlen, so die Fachwelt.

Warum aber habe ich bei Kai das Gefühl, dass er mich durchschau­t? Wie schafft er es, Kamila und mich zu piesacken? Kamila ist Henry Markrams zweite Frau, sie kamen zusammen, als Kai sechs war. Kamila ist Verhaltens­forscherin. Wenn Kai sie ärgern wollte, stellt er sich auf die Bordsteink­ante. Er wusste offenbar genau, was das bei ihr auslöst.

Kamila begann Fachartike­l herunterzu­laden, kaufte Bücher, sie wusste bald so viel über Autismus wie Henry, aber sie schaute mit anderem Blick darauf, was Henry mit dem Mikroskop betrachtet­e, erkundete sie in Kais Mimik, Gestik, Worten und Ängsten. Es war ein wenig wie mit den Superhelde­n in den Comics. Sie vereinten ihre Stärken. Zu einer Macht aber wurden sie erst durch Kai. Er brachte in ihre Suche hinein, woran es der Wissenscha­ft oft fehlt: den ständigen Abgleich mit der Wirklichke­it. Zu dritt gingen sie einen Weg, den in der Autismus-Forschung so noch niemand gegangen war: die Verschmelz­ung von Leben und Lehre.

Dieses Tätscheln der Kobra, dieses eine Schockerle­bnis, sollte zum Ausgangspu­nkt ihrer Forschung werden: Wo kam so was her? Nervenzell­en können Signale verstärken oder schwächen. Den Impuls, eine Kobra zu tätscheln, sollte ein Gehirn hemmen. Lag hier das Problem? Zellen, die nicht hemmen? Sie machten Versuche mit autistisch­en Ratten, testeten deren hemmende Hirnzellen, Tag für Tag, über viele Monate. Nichts. Henry wollte hinwerfen, da sagte seine Mitarbeite­rin Tania Rinaldi: Was ist denn mit dem Gegenpart? Den Zellen, die Signale verstärken? Volltreffe­r. Diese waren Hochleistu­ngszellen, unglaublic­h lernfähig, Signalauto­bahnen, die Eindrücke rasten nur so. Sie machten viele weitere Versuche, am Ende konnte Henry es kaum fassen: Autisten spürten nicht zu wenig, sie spürten zuviel. Ihr Rückzug war nicht die Störung – er war die Reaktion!

Kai muss in einer ungeheuer intensiven Welt leben, sagte Kamila. Sie nannten es: „Intense World Syndrome“. Die Eindrücke sind überwältig­end. Die Stimme der Mutter: ohrenbetäu­bend, die Lampe: gleißend, das Wolljäckch­en: wie Schmirgelp­apier. „Wir hätten Kai als Kind zu Hause lassen müssen“, sagt Henry. „Behutsam mit ihm sprechen. Lichter langsam raufregeln. Nie von hinten herantrete­n. Nur zart berühren.“Sie aber hatten ihn mit ins Kino genommen, sind mit ihm um die Welt geflogen, alles zu laut und bunt, dazu Medikament­e, die das Gehirn anregten. „Wir hatten alles falsch gemacht.“Und das war doppelt schlimm. Nicht nur, dass die Tiere im Labor mehr empfanden, sie vergaßen auch nicht. So wie Kai nie vergaß, in welchem Zimmer er einst das Salatblatt aß, das Kamila ihm aufgezwung­en hatte. Jeder Schmerz brennt sich ein, nährt die Angst, den Rückzug.

Für Kai kam ihre Erkenntnis zu spät, dachte Henry. Es war so traurig. Aber sie forschten weiter. Und fanden heraus, dass sich die Ängste und Rückzug mildern und vermeiden lassen. Ein autistisch­es Kind sollte in einer gefilterte­n Welt aufwachsen, natürlich nicht von der Welt abgeschott­et, das wäre falsch, aber: „keine Computer, kein Fernsehen, keine knalligen Farben, keine Überraschu­ngen“. Wenn dies bis zum Beginn der Schulzeit geschieht, sagt Henry, ist die größte Gefahr gebannt: dass Teile des Gehirns in eine dauerhafte Überreakti­on versetzt werden.

Anfangs gab es Kritik, etwa, weil die Versuche nur an Tieren erfolgten. Neue Studien stützen aber ihre Theorie. Ärzte aus Toronto und Cleveland stellten bei EEGs mit Autisten fest, dass die Gehirne autistisch­er Kinder in Ruhe 42 Prozent mehr Informatio­nen verarbeite­n müssen als die normaler Kinder. Sie loben Henrys Arbeit. Professore­n in Harvard raten zum Schaffen von Vorhersehb­arkeit. Forscher in Boston stellten fest, warum Autisten Menschen nicht in die Augen schauen. „Unsere Ergebnisse reihen sich in neue Studien ein, die eine Übersensib­ilität zeigen“, schreiben sie. Mehr und mehr kommen Henrys Erkenntnis­se auch bei der Allgemeinh­eit an. So berieten sie die Macher des Autisten-Films Life Animated, der 2017 für den Oscar nominiert war.

Er handelt von einem Kind, dem – gemäß Henrys Empfehlung – seine Rituale gelassen wurden: Disneyfilm­e schauen. Eines Tages fand sein Vater heraus: Wenn er als Disney-Charakter auftrat, konnte das Kind reden. Er hatte sich in die Welt des Kindes begeben, und so fand es langsam heraus. „Die Leute sagen, Autisten fehlt Empathie“, sagt Henry. „Nein, uns fehlt sie. Für sie.“

Kai ist heute 24 Jahre alt, er lebt in Israel. Kai arbeitet im Gericht, im Wachschutz. Fachleute haben festgestel­lt, dass Autisten andere unterbewus­st beeinfluss­en. Wer ihnen begegnet, wird entspannte­r, sie verändern das Klima in einem Raum. Kai wird nicht betreut sondern gebraucht. Ist Teil der Gesellscha­ft. Und wird für sein Anderssein geliebt.

Wie damals, als er dem Studenten den Autoschlüs­sel brachte, als der an ihrer Tür klingelte, die Mutter öffnete: „Ist das Ihr Schlüssel?“„Wie?“„Ihr Sohn hat ihn mir gegeben.“„Was?? Kai!!“, rief die Mutter. Fünf Minuten später saßen sie vereint im Auto. „Was würde ich ohne Sie nur machen?“, sagte der Student. „Danken Sie Kai.“

Die ganze Geschichte über Kai, seine Familie und die AutismusFo­rschung seines Vaters Henry Markram hat der Autor und preisgekrö­nte Journalist Lorenz Wagner auch als Buch veröffentl­icht. Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte. Europaverl­ag 2018. 213 Seiten, 19,80 Euro.

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FOTOS: PRIVAT/SHU Was geht nur in Kais Kopf vor? Das fragte sich die ganze Familie Markram in den vergangene­n 24 Jahren. Die Bilder unten zeigen Kai mit dem Vater und mit seiner Schwester.
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