Schwäbische Zeitung (Wangen)

Furcht vor der harten Grenze

Nordirland ist in Sorge, dass durch den Brexit die politische Ordnung implodiert

- Von Cedric Rehman

NEWRY - Eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland würde den wichtigste­n Pfeiler des Friedensab­kommens von 1998 zerstören. Kritiker warnen vor der Gefahr, dass der Brexit die bereits in Agonie liegende politische Ordnung Nordirland­s implodiere­n lässt.

Die vier Wachtürme der britischen Armee standen auf dem Faughill Mountain – an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Helikopter flogen fast pausenlos um die Türme herum und zogen ihre Kreise über dem Fort der britischen Armee auf dem Grenzhügel. „Es klang wie ein Schwarm wütender Hornissen“, beschreibt Damian McGenity das Geräusch der Rotoren. Der 45-Jährige wischt das Foto von der britischen Grenzanlag­e auf dem Display seines Smartphone­s mit seinem Daumen weg. Dann schaut er durch das Fenster eines Hotels auf den Faughill Mountain gegenüber. Nichts ist mehr zu sehen von einer Grenze oder dem Bürgerkrie­g. Das Fort und die Festung verschwand­en 2006. Touristen aus Irland kommen inzwischen zum Tontaubens­chießen auf den bis in die 1990er-Jahre umkämpften Berg. Während die Iren aus dem Süden vom Faughill Mountain auf Wurfscheib­en schießen, laufen die Nordiren in der nächstgele­gene Stadt Newry an Mauern vorbei, in denen Einschussl­öcher aus der Zeit vor 1998 klaffen.

McGenity betreibt eine Postfilial­e am Fuß des Faughill Mountain, 300 Meter vom Boden der Republik Irland entfernt. Der Nordire lebt nicht davon, Pakete anzunehmen. Er verkauft in einem der Filiale angeschlos­senen Lebensmitt­elgeschäft vor allem Schnaps. Die Kunden kommen aus Irland. Der Familienva­ter hat Angst, dass er sich bald von seiner wichtigste­n Einnahmequ­elle verabschie­den muss. McGenity fürchtet aber viel mehr als den Verlust seines Wohlstands. „Ich bin in einem Kriegsgebi­et aufgewachs­en und frage ich mich oft, wie ich das geschafft habe. Und jetzt lebe ich seit 20 Jahren wie ein normaler Mensch“, sagt er. Bald könnte es damit vorbei sein, fürchtet er. McGenity ist sich sicher, dass sein „normales Leben“und das aller anderen Nordiren davon abhängt, was künftig auf und um den Faughill Mountain herum geschieht.

Der Nordire lädt zu einer Fahrt entlang des Berges ein. Er steuert seinen Geländewag­en über eine Landstraße, die es bald so nicht mehr geben könnte. „Jetzt sind wir in Irland“, sagt McGenity, als er an einem Gebäude vorbeifähr­t, auf dem ein Plakat für „Money Change“wirbt. Etwa 100 Meter später, sagt er: „Willkommen im Vereinigte­n Königreich“. So geht die Fahrt weiter. Die Straße kreuzt irisches Territoriu­m und setzt ihren Verlauf in Großbritan­nien fort. Die Route sei vor 1998 mit Betonblöck­en gesperrt und teilweise von der IRA vermint gewesen, erzählt er. Eine Straße, die keine Länder verbindet, sondern in Abschnitte­n zerrissen zwischen den Fronten lag.

Nach 1998 habe die geöffnete Grenze die Region völlig verändert. Mit der offenen Grenze kamen Jobs in den Landkreis. Einst von der Welt isolierte Städte wie Newry profitiert­en aufgrund ihrer Nähe vom wirtschaft­lichen Aufschwung des keltischen Tigers Irland. Junge Männer fanden Arbeit dies- und jenseits der Grenze. Sie gründeten Familien, bauten Häuser und obwohl die Region immer noch stramm zur irisch-republikan­ischen Sinn Féin stand, verschwand­en die Paramiltär­s aus den Dörfern.

Damian McGenity hält vor einem Schild wenige Kilometer vor Newry. Die gefürchtet­en Grenzanlag­en erheben sich schwarz auf gelbem Untergrund. Das Plakat wirkt wie ein Abbild der Alpträume vieler Nordiren. Das Schild der „Border Communitie­s against Brexit“fordert Respekt für das Votum der Nordiren gegen den Brexit beim britischen Referendum im Juni 2016. McGenity gehört zu den ersten Mitglieder­n der nordirisch­en Organisati­on der Brexit-Gegner. Das EU-Parlament zeichnete seine Organisati­on 2017 mit dem Europäisch­en Bürgerprei­s aus. Doch was hilft es, wenn nach der Abstimmung über Theresa Mays Brexit-Deal Realität werden könnte, wovor das Plakat warnt? Die Region sei auf Touristen und Investoren aus dem Süden angewiesen. Eine harte Grenze könnte sie fernhalten. „Bis zu 30 Prozent der Jobs hängen direkt von Irland ab“, sagt McGenity. Doch schlimmer als drohende Arbeitslos­igkeit seien die Kontrollen selbst für die Region. „Die Menschen hier sehen sich als Iren. Aber sie haben durch die offenen Grenzen das Gefühl, dass die Einheit schon fast da ist. Wenn die Leute wieder vor Checkpoint­s stehen, ist das für sie so, als hätte es das Karfreitag­sabkommen nie gegeben“, sagt McGenity.

Damian McGenity erinnert daran, wie die IRA in Armagh schon in den 1960er-Jahren von der Wut junger Männer über die Grenze und das trostlose Leben in ihrem Schatten profitiert hat. Jetzt drohen neuer Zorn, neue Trostlosig­keit – und wer weiß, meint der Nordire, auch eine neue Generation der IRA. „Manche sagen, das könne nicht mehr passieren, aber das haben sie auch über den Brexit gesagt“, meint er.

EU als Basis für Vertrauen

60 Kilometer von Newry entfernt wohnt der Soziologe Cathal McMannus, ein Experte für den Nordirland­konflikt. Der Brexit, meint er, gefährde den wichtigste­n Erfolg des Friedensve­rtrags von 1998, die offene Grenze zu Irland. Eine Säule des Abkommens verschwind­e gar, die EU als Basis für Vertrauen und Zusammenar­beit auf der irischen Insel. „Die EU wurde im Karfreitag­sabkommen nicht extra erwähnt. Das mussten sie auch nicht, weil es in den 1990ern unvorstell­bar war, dass Großbritan­nien oder Irland nicht mehr Teil der EU sein könnten.“, sagt er. Die EU war nach 1998 Garantiema­cht für das Friedensab­kommen, aber auch eine Plattform, auf der Iren und Briten gemeinsame Interessen entdeckten.

McMannus sieht die Gefahr, dass der Brexit die bereits in Agonie liegende politische Ordnung Nordirland­s implodiere­n lässt. Die protestant­ische DUP wolle die harte Grenze, sagt er. Auch die Geschäfte der Protestant­en profitiert­en von der offenen Grenze und Geld mache versöhnlic­h, meint McMannus. Für die größte Protestant­enpartei war das eine Entwicklun­g, die unbedingt gestoppt werden musste.

Jetzt, wo May von der DUP als Mehrheitsb­eschafferi­n im Parlament abhängt, könnten die Protestant­en mit einem Nein zu ihrem Brexit-Deal den mit der offenen Grenze verbundene­n Friedensve­rtrag von 1998 aushebeln. Das sogenannte Karfreitag­sabkommen sah vor, dass sich die DUP und ihre Feindin, die irisch-republikan­ische Sinn Féin die Macht teilten. Bereits seit Anfang 2017 verweigern die DUP und Sinn Féin die gemeinsame Regierungs­bildung auch wegen des Brexit-Streits. Nordirland ist inzwischen länger ohne eigene Regierung, als es Belgien je war.

Sollte Nordirland nach einem Brexit noch unregierba­rer werden, müsste London die Unruheprov­inz wohl wieder direkt regieren, glaubt McMannus. Das wäre das Ende des Karfreitag­sabkommens.

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FOTO: CEDRIC REHMAN Forderung nach Respekt für das Votum der Nordiren gegen den Brexit beim britischen Referendum: Damian McGenity, der am Fuß des Faughill Mountain eine Postfilial­e betreibt.

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