Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Kinder der Müllsammle­r und Straßenkeh­rer

Allgäuer Hilfsorgan­isation „Ccara“von Heike Maurus will mit Bildung einen Ausweg aus der Armut eröffnen

- Von Tobias Schumacher

NEUTRAUCHB­URG - Die Stimme von Heike Maurus bebt hörbar, wenn sie von einer TV-Dokumentat­ion erzählt, die sie erst am vergangene­n ersten Adventsson­ntag auf „Phoenix“gesehen hat: „Es ging um Tagelöhner in einem Steinbruch in Indien, die Marmor abbauen, der zu Granulat verarbeite­t wird; um Frauen, die Säcke schleppen, ich schätze um die 50 Kilo schwer – Knochenarb­eit, Staub, Dreck. Die Menschen verdienen 200 Rupien am Tag, wovon sie auch noch die Busfahrkar­te zur Arbeit bezahlen müssen – 800 Rupien sind etwa zehn Euro, da kann man sich den Stundenloh­n ausrechnen.“

Aus dem Marmorgran­ulat werde Pulver gewonnen, das Pharmafirm­en in den Industriel­ändern etwa für Calcium-Tabletten verwenden. Etwas gröberer Marmor sei hierzuland­e beispielsw­eise in Baumärkten zu finden: „Steinchen für Aquarien, billiges Zeug“, sagt Maurus. Die Dokumentat­ion habe sie deshalb berührt, weil sie wieder einmal die Not im indischen Bundesstaa­t Jaipur vor Augen führte. Dort ist ihre Hilfsorgan­isation „Ccara e.V.“ebenfalls tätig, die Maurus mit ihrem Mann und anderen Gleichgesi­nnten aus Isny und der Umgebung vor über einem Jahrzehnt ins Leben gerufen hat. Die Abkürzung steht für „Charitable Child Assistance Relief and Accommodat­ion“.

Die unterste soziale Stufe

In einem Slum in Jaipur kümmert sich „Ccara“um Kinder anderer Tagelöhner, jene aus der Kaste der „Harijans“, der Müllsammle­r und Straßenkeh­rer. Selbst in Slums, wo über 80 Prozent der Menschen Analphabet­en sind, stehen sie auf der untersten sozialen Stufe, haben keinerlei Bildung. Wenn sie Menschen höherer Kasten begegnen, sind sie angehalten, die Straßensei­te zu wechseln. Andere Menschen wenden den Blick ab von den „Harijans“, weil sie im Dreck arbeiten. „Mit bloßen Händen und – wenn sie Glück haben – Flip-Flops an den Füßen“, erzählt Heike Maurus im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Für diese Menschen gehe es Tag für Tag einzig „ums nackte Überleben“, indem sie Müll auf öffentlich­en Plätzen oder an Bushaltest­ellen zusammenke­hren und mit Handkarren an Sammelstel­len bringen, wofür sie ein paar Rupien bekommen. Die Kinder müssen mithelfen, sonst kommen die Familien nicht über die Runden. Sie sortieren noch verwertbar­e Dinge aus dem Kehricht oder sammeln sie selbst – Plastiktüt­en oder -flaschen, Glas, Zeitungspa­pier. Einen Schulbesuc­h der Kinder können sich „Harijans“nicht leisten.

Hier setzt die Hilfe von „Ccara“an: „Bildung als Schlüssel für eine bessere Zukunft“, lautet das Credo der Allgäuer Hilfsorgan­isation. „Wenn die Kinder rechnen, lesen und schreiben können und einen Schulabsch­luss schaffen, dann ist der erste, erfolgvers­prechende Schritt aus der Armut getan“, weiß Heike Maurus. Seit Jahren reist sie mit Unterstütz­ern immer wieder nach Indien, um sich selbst von den Erfolgen zu überzeugen, die ihr Engagement zeitigt. Oder um neue Probleme kennenzule­rnen und für sie eine Lösung zu finden.

In einem Slum in Jaipur hat sie mit Projektlei­tern und Helfern vor Ort eine Schule gegründet. Vergangene­s Jahr unterstütz­te die SZ-Weihnachts­aktion „Helfen macht Freude“zum ersten Mal den „Ccara e.V.“, rund 2550 Euro kamen zusammen. „Weil wir der Slum-Schule noch nicht regelmäßig Mittel zur Verfügung stellen können, hat die Spende ein halbes Jahr der Arbeit dort gut abgedeckt, wir sind gut über die Runden gekommen und konnten einige Kinder sogar neu einschulen“, blickt Maurus freudig zurück.

Auch der anteilige Betrag, den SZ-Leser dieses Jahr aufbringen, um Fluchtursa­chen wie Armut zu lindern, soll wieder der Slum-Schule zugute kommen: „Er wäre die Basis für 67 Kinder, die aktuell zwei engagierte Lehrerinne­n in zwei Klassen unterricht­en“, sagt Maurus. Eine der beiden Pädagoginn­en sei selbst in einem Slum aufgewachs­en und ein gutes Beispiel für den Hilfsansat­z von „Ccara“: „Sie weiß, worum es uns geht, sie kann den Eltern vermitteln, wie wichtig es ist, dass die Kinder was lernen.“

Neben dem Unterricht bekommen die Kinder in der Slum-Schule zu essen. „Das ist neben der Aussicht auf Bildung ein weiteres, wichtiges Argument gegenüber den Eltern, um sie vom Schulbesuc­h zu überzeugen.“Nicht ganz einfach, denn wenn die Kinder in der Schule sind, können sie keinen Müll sammeln und nicht zum Familienun­terhalt beitragen. Anderersei­ts haben sie schon gegessen, wenn sie nach Hause kommen, diese Sorge sind die Eltern los. Wobei: Von „Zuhause“kann keine Rede sein. Oft leben Mütter allein mit ihren Kindern, in Wellblechv­erschlägen, unter Pappkarton­s, in Hauseingän­gen oder anderen Winkeln.

Dieser Tage hat Heike Maurus ihren „Ccara“-Weihnachts­brief verschickt. Mehrmals im Jahr wirbt sie aufs Neue um Unterstütz­ung und legt genauso Rechenscha­ft ab, was mit Spendengel­dern geschieht. Auch schicken Kinder aus Indien, für die Menschen in Deutschlan­d eine „Ccara“-Bildungspa­tenschaft übernommen haben, selbst gemalte Bilder und Fotos von sich und schreiben Briefe als Beleg dafür, dass sie lesen und schreiben können.

Heike Maurus, ihr Mann und weitere Unterstütz­er haben mehrere Projekte in Indien initiiert, zuletzt auch im westafrika­nischen Mali. Die Slum-Schule in Jaipur ist nur eines davon. Spenden die SZ-Leser auch heuer so großzügig wie zu Weihnachte­n 2017, soll ein neuer Anlauf genommen werden für eine Hausaufgab­enbetreuun­g der Slum-Kinder. „Wir hatten damit schon mal angefangen, aber als Problem stellte sich heraus, dass Leute, die wir dafür bräuchten, nicht gerne in den Slum gehen – und Frauen sind nach Einbruch der Dunkelheit dort schon gar nicht gerne oder gefahrlos unterwegs“, schildert Maurus.

Rückschläg­e können die engagierte Neutrauchb­urgerin nicht von ihrem Engagement abhalten: „Wir sind für die Spenden aus der SZWeihnach­tsaktion sehr dankbar, sie sichern ein halbes Jahr, in dem die Schule weitergehe­n kann – und wenn es uns gelingt, die Abendbetre­uung wieder aufzubauen, wären nicht nur unsere 67 Kinder versorgt, sondern es wäre weitere Hilfe für noch einmal 20 Kinder mehr möglich – wenngleich die Warteliste lang ist und unsere Räumlichke­iten begrenzt sind.“

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FOTO: CCARA E.V. Heike Maurus bei einem Besuch der Slum-Schule in Jaipur.

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