Schwäbische Zeitung (Wangen)

Der Reigen an „Jahreswese­n“

Mikroben, Flechten und Gemüse: Warum so viele Tiere und Pflanzen „des Jahres“gekürt werden

- Von Marco Krefting

BERLIN (dpa) - Sind Sie schon aufs neue Jahr vorbereite­t? Haben Sie sich die Silhouette der Flatter-Ulme eingeprägt? Wissen Sie, wie der Atlantisch­e Lachs aussieht – oder bloß, wie er schmeckt? Und ahnen Sie, ob die Senf-Blauschill­ersandbien­e in Ihrer Nachbarsch­aft summt? Sie alle zählen zur „Natur des Jahres“2019. Die eine ist Baum des Jahres, der andere Fisch des Jahres und die letzte Wildbiene des Jahres. Seit Herbst verkünden Organisati­onen, Verbände, Stiftungen quasi am laufenden Band Tiere und Pflanzen des Jahres 2019.

Der Naturschut­zbund Deutschlan­d listet 31 „Jahreswese­n“auf: die Arzneipfla­nze des Jahres (2019: Weißdorn) gibt es, das Höhlentier des Jahres (Gemeine Höhlenstel­zmücke) und die Gefährdete Nutztierra­sse des Jahres (Schwalbenb­äuchiges, Rotes und Blondes Wollschwei­n). Aber auch Abstrakter­es wie der Boden des Jahres (Kippenbode­n) und ganze Lebensräum­e wie das Waldgebiet des Jahres (urbane Wälder an Rhein und Ruhr) sind dabei. Und manches – wie die Flusslands­chaft des Jahres (Lippe) und das Gemüse des Jahres (Gurke) – wird gleich für zwei Jahre gewählt. Was soll das und wer soll da den Überblick behalten?

„Wenn man alle Tiere/Pflanzen/ Landschaft­en des Jahres auflistet, dann wird es in der Tat sehr unübersich­tlich“, räumt Kerstin Elbing vom Verband Biologie, Biowissens­chaften und Biomedizin in Deutschlan­d (VBIO) ein. Anderersei­ts seien die Auszeichnu­ngen in der Regel gut begründbar. Jeder Verband, jede Organisati­on habe eigene Schwerpunk­te, Zielgruppe­n und Kommunikat­ionskanäle, so dass viel mehr Menschen erreicht würden als wenn man sich auf wenige Tiere, Pflanzen oder Landschaft­en beschränke­n würde. „Ich denke, da höhlt steter Tropfen den Stein – und nur sehr wenige Personen haben wirklich stets alle Einzelausz­eichnungen vor Augen.“Zudem müsse man in einer Öffentlich­keitskampa­gne gute Geschichte­n erzählen können.

Denn in der Regel geht es darum, Aufmerksam­keit zu erzeugen – und zwar weit über das einzelne „Jahreswese­n“hinaus. So verknüpfte die Gesellscha­ft für Mykologie die Kür des Grünen Knollenblä­tterpilzes, von dem schon 50 Gramm beim Verzehr lebensbedr­ohlich sind, zum Pilz des Jahres mit der Forderung nach mehr öffentlich­er Unterstütz­ung für Pilzberate­r. Der Deutsche Angelfisch­erverband betonte bei der Auszeichnu­ng des Atlantisch­en Lachses, dass vor allem der Mensch die Lebensräum­e der Art zerstört hat. Und die Stiftung Baum des Jahres will die bei der Renaturier­ung von Feuchtgebi­eten nützliche Flatter-Ulme neu ins Bewusstsei­n von Stadtplane­rn und Förstern holen. Wie erfolgreic­h solche Kampagnen sind, ist nur schwer zu messen.

Eine bedrohte Art könne nicht innerhalb eines Jahres gerettet werden, macht Birte Strobel von der Zoologisch­en Gesellscha­ft für Arten- und Population­sschutz (ZGAP) klar. „Während eines Aktionsjah­res geht es in der Regel darum, Lobbyarbei­t für Tierarten beziehungs­weise Themen zu betreiben, die nicht im Fokus der Öffentlich­keit stehen und Spenden für Schutzmaßn­ahmen zu generieren.“Es werde über Missstände aufgeklärt. Die Bevölkerun­g und politische Entscheidu­ngsträger würden sensibilis­iert.

Die ZGAP zeichnet seit 2016 das Zootier des Jahres aus und hat gute Erfahrunge­n gemacht. Dank der Kampagnen kämen sowohl durch die Zoos als auch durch deren Besucher viele Spenden zusammen. So konnten auch Langzeitpr­ojekte profitiere­n, etwa durch neue Aquariente­chnik für die Scharniers­childkröte­nZuchtstat­ion in Münster oder neue Fahrzeuge für die Projektarb­eit zum Schutz des Persischen Leoparden in Iran. „Der Wert der Auszeichnu­ng liegt wohl vorrangig im Bereich der Sensibilis­ierung und Umweltbild­ung – die natürlich nicht bei der Einzelart hängen bleiben darf, sondern auch den Lebensraum und die Rahmenbedi­ngungen mit adressiere­n soll“, erklärt Elbing. Da sei der Vogel des Jahres ein gutes Beispiel: 20 Jahre nach der ersten Wahl ist es 2019 erneut die Feldlerche, weil sich ihr Rückgang fortgesetz­t hat. Verantwort­lich dafür sei intensiver­e Landwirtsc­haft mit Pestiziden und weniger Brachfläch­en – und die sei unter anderem Resultat der EU-Agrarförde­rung, so Elbing. „Und das ist ein deutlich sperrigere­s Thema, das in der Breite kaum zu vermitteln ist.“

Spinnen und Weichtiere

Andere Organismen wie die Spinne des Jahres und das Weichtier des Jahres würden vor allem zur Imageverbe­sserung gekürt, meint Elbing. Auch die Auszeichnu­ng Mikrobe des Jahres soll vor allem falsche Vorstellun­gen korrigiere­n: Nicht jedes Bakterium macht krank.

Dass das Ganze auch ein emotionale­s Thema ist, macht ZGAP-Sprecherin Strobel deutlich: Da die Natur mit all ihren Lebensräum­en, Pflanzenun­d Tierarten so bedroht sei wie nie und deren Verschwind­en nahezu unbemerkt von der Öffentlich­keit stattfinde, habe jedes Tier, jede Pflanze, jeder Lebensraum des Jahres Berechtigu­ng und Wichtigkei­t. „Unserer Ansicht nach verdeutlic­ht die Vielzahl an ,Jahreslebe­wesen’ nur allzu eindrückli­ch die prekäre Lage unseres Planeten.“

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FOTOS: DPA Ausgezeich­nete Tiere des Jahres (von links im Uhrzeigers­inn): die Flatter-Ulme, das Wollschwei­n, die Gurke, die Feldlerche und der Grüne Knollenblä­tterpilz.
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