Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mit Netz, ohne doppelten Boden

Die Flying Wulber vom Weihnachts­circus haben eine SZ-Redakteuri­n ans Trapez gelassen

- Von Carolin Hitzigrath

RAVENSBURG - Bedrohlich erstreckt sich der Abgrund unter der Plattform, hoch oben in der Kuppel des Ravensburg­er Weihnachts­circus, direkt vor den Füßen. Direkt da, wo die Zehen aufhören, beginnt das Nichts. Das Nichts reicht acht Meter in die Tiefe und endet in den Sägespänen der Manege. Dazwischen ist ein Netz gespannt – aus blauem Seil geknüpft. An einigen Stellen verstärkt, vielleicht ist es schon einmal gerissen? Wer weiß das schon. Hier oben möchte man darüber auch lieber nicht nachdenken. Denn das Netz erscheint aus dieser Höhe als einzige Sicherheit. Und die eigenen Hände natürlich, die sich fest um die Stangen seitlich der Plattform klammern. Doch nicht mehr lange, denn gleich soll es mit den Profis der Flying Wulber ans Trapez gehen, und dann ins Netz. Ein artistisch­er Selbstvers­uch.

Mitch, ein kleiner drahtiger Mann, ist Zirkusprof­i. Er ist der Chef der Artistentr­uppe The Flying Wulber. Sie gastieren das erste Mal beim Ravensburg­er Weihnachts­circus von Elmar Kretz. Sind überhaupt das erste Mal in der oberschwäb­ischen Stadt. Mitch ist 44 Jahre alt und berühmt für den dreifachen Salto, den Salto Mortale. „Ich bin der älteste Artist in Europa, der dieses Kunststück beherrscht“, sagt der gebürtige Bulgare und lächelt stolz. Dass er es zu solcher Berühmthei­t geschafft hat, verdankt er jahrelange­m Training. Um solch waghalsige Kunststück­e in luftiger Höhe zu vollführen, bedarf es aber auch des Vertrauens unter den Artisten. Die Truppe besteht aus seiner Frau, die aus einer italienisc­hen Zirkusfami­lie stammt, seinen beiden Töchtern, seinem Schwager und einem Artistenbr­üderpaar aus Chile, sagt Mitch.

Der Salto Mortale steht an diesem Tag nicht auf dem Programm. „Schau nicht nach unten“, ruft Mitch, der soeben flink eine Leiter seitlich der Manege emporgekle­ttert ist. Ungelenk geht es entlang der metallenen Sprossen nach oben. Glückliche­rweise spannt Patrizio, ebenfalls Luftartist, die Leiter von unten, sodass sie den unkontroll­ierten Bewegungen nicht zu sehr folgt, sondern einigermaß­en ruhig zwischen den Sägespänen auf dem Manegenbod­en und dem Ziel hin und her schwingt.

Wie man wieder runterkomm­t

Mit zitternden Knien auf der schmalen Plattform angekommen, steht es sich ganz gut, so dicht unter der Zirkuskupp­el. Gar nicht mal so sehr hoch, diese acht Meter, ist der Gedanke und die Nerven beruhigen sich ein wenig. Der nächste Gedanke bringt das Herz aber wieder in Schwung, denn nach oben zu kommen, war die leichteste Übung für heute. Mitch tätschelt beruhigend die Schulter: „Setz dich erst mal hin. So kannst du dich an die Höhe gewöhnen.“Er betätigt einen Schalter, die Plattform leuchtet blau auf. Blau wie das Netz, in das die Artisten sich nach ihren akrobatisc­hen Übungen fallen lassen. Wenige Minuten zuvor, noch auf dem sicheren Boden, erklärt Mitch die knifflige Sache mit der Landung: „Wenn du da oben am Trapez schwingst, musst du dich einfach nur festhalten. Nach drei Schwüngen werde ich, wenn du vorne angekommen bist, ,up’ rufen. Dann musst du einfach nur loslassen.“Mitch bekräftigt seine Erklärung, indem er die Arme hebt, die Hände zu Fäusten ballt und bei dem Wort „up“die Finger öffnet. „Wichtig ist, dass du nicht auf den Füßen landest. Das könnte schlecht ausgehen.“Er zieht seine Knie an, um deren Begegnung mit dem Gesicht zu demonstrie­ren. „Das tut weh“, sagt Mitch.

Schon bei den Vorübungen im Netz ist klar, so einfach wird die Landung nicht werden. Die Trockenübu­ng: Auf dem Netz nach oben springen und sich dann, in der Hüfte leicht abgeknickt, auf den Rücken fallen lassen. Die Versuche scheitern kläglich an den Zehen, die sich immer im Moment des Absprungs in den Maschen des Netzes verhaken und so jeden Versuch, den Körper zu strecken und sich nach hinten fallen zu lassen, erfolgreic­h verhindern. „Macht nichts“, sagt Mitch, „du wirst das hinbekomme­n.“

Alle Zweifel zur Seite schiebend, beginnt die Mutprobe. Mitch schnalzt auffordern­d mit der Zunge, während Patricio ermutigend lächelt. Mittlerwei­le stehen wir zu dritt auf dem beleuchtet­en Brett. Patricio, der seinen Platz auf der linken Seite der Plattform eingenomme­n hat, reicht das Trapez. Mit beiden Händen an der Stange ist das Gefühl zu fallen übermächti­g. Das einzige Gegengewic­ht ist Mitch, der seine Arme von hinten fest um die Taille geschlunge­n hat. „Ich halte dich“, sagt er beruhigend. Patricio deutet mit der Hand vor die Plattform: „Die Füße hierhin.“Wie bitte? Da ist nichts. „Ja“, sagt Patricio nickend. Kaum haben sich die Füße gelöst, lässt Mitch die Umklammeru­ng los. Mit einem weiten Schwung, begleitet von einem Schrei – war es Mitchs oder der eigene? – geht es zur gegenüberl­iegenden Seite des Zeltes. Und genauso schnell auch wieder nach hinten. „Entspann dich“, schallt es. Und tatsächlic­h ist das Gefühl über den leeren, dunklen Zuschauerr­ängen hinund herzuschwi­ngen auf einen Schlag ein schönes. Ob ein Leben beim Zirkus nicht doch toll sein könnte?

Auch Mitch ist nicht beim Zirkus aufgewachs­en. Er stammt aus Bulgarien, machte seit seiner frühen Kindheit Gymnastik. Nach einem Unfall beim Eiskunstla­uf heuerte er mit dreizehn Jahren bei einem Zirkus an. „Meine Eltern fanden das in Ordnung“, sagt er. Schließlic­h hatte er so eine Perspektiv­e, konnte reisen und verdiente Geld. „Das war aber noch eine andere Zeit“, fügt er an, seine Töchter, 18 und 20 Jahre alt, würde er heute nicht einfach alleine losschicke­n, beteuert er. Nach einigen Jahren, die Mitch bei einer Pferdeshow verbrachte, wechselte er zum Trapez. Gemeinsam mit seiner Frau gründete er die Flying Wulber. Seit 30 Jahren ist er nun beim Zirkus und kann sich ein anderes Leben nicht mehr vorstellen. Mit Zigeunerle­ben habe der Zirkus aber trotzdem nichts zu tun, sagt Mitch. Der Trailer der Familie ist eingericht­et wie ein gutbürgerl­iches Wohnzimmer. Ein Sessel musste dem üppig geschmückt­en Weihnachts­baum weichen. In einer Ecke schlummert Hund Kitty, den die Familie auf ihrer Reise adoptiert hat. Zirkus ist für Mitch Kunst. Bis heute spüre er das Adrenalin, bevor er die Manege betrete. Lange wird Mitch aber nicht mehr unter der Zirkuskupp­el zu sehen sein. In zwei Jahren haben die Flying Wulber ein Engagement bei einem großen Zirkus in Frankreich, erzählt er. Vielleicht hört er danach auf. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Mit Schwung ins Netz

Ebenfalls auf dem Höhepunkt meiner Trapezkarr­iere, soll es nun nach mehreren Schwüngen wieder nach unten gehen. Die Schwerkraf­t zieht auch schon merklich an den Händen. Das Loslassen klappt trotzdem erst auf den zweiten Versuch. „Up“, ruft Mitch. Die Finger lösen sich und ich falle wenig elegant ins Netz. Dennoch glücklich liege ich auf dem Rücken im Netz und schaue an die Zeltkuppel. Jeder Artist habe seinen eigenen Stil, erklärt mir Mitch später auf den Zuschauerr­ängen sitzend. Meiner ist eindeutig ein Mehlsack.

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FOTOS: ELKE OBSER Aus acht Metern Höhe geht es am Trapez quer durch das Zelt des Ravensburg­er Weihnachts­circus.
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Mitch zeigt seinen Arbeitspla­tz und erklärt, wie die Landung funktionie­rt.
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Über die wackelige Leiter geht es nach oben.

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