Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wohnen wie im Raumschiff auf Stelzen

Seit zehn Jahren forschen Wissenscha­ftler in der Neumayer-Station III in der Antarktis

- Von Hans-Christian Wöste

BREMERHAVE­N/ANTARKTIS (dpa) Eine öde Eiswüste ist das EkströmSch­elfeis im Südpolarge­biet: In dieser endlosen weißen Landschaft wirkt das bunte Objekt am Horizont fast wie eine Fata Morgana. Das rotweiß-blaue Gebilde ähnelt einem Raumschiff auf Stelzen, das auf dem Eis gelandet ist – die Rede ist von der Neumayer-Station III. Seit zehn Jahren ist sie der wichtigste Pfeiler in der deutschen Polarforsc­hung – so wie schon zuvor die beiden Vorgänger-Stationen Georg von Neumayer und Neumayer II.

Der Arzt Eberhard Kohlberg (71) hat in den vergangene­n 30 Jahren auf allen drei Stationen gearbeitet und dort mehrere Winter verbracht. Dann herrschen Temperatur­en bis minus 50 Grad, peitschend­e Winter und drei Monate totale Finsternis. In dieser Zeit ist das Team, bestehend aus einem Koch, einem Arzt, drei Ingenieure­n und vier Technikern, von der Außenwelt nahezu abgeschnit­ten. „1981 gab es auf der ersten Georgvon-Neumayer-Station nur Funk und für Notfälle ein Satelliten­telefon“, erinnert sich Kohlberg. Die weit auseinande­rliegenden Polarstati­onen von Deutschlan­d, Großbritan­nien und Indien funkten sich bei Langeweile gerne an und tauschten Nachrichte­n aus. „Mit der DDR-Station war das aber schwierig, denn da saß ein linientreu­er Politoffiz­ier am Funkgerät“, sagt Kohlberg.

Das ändert sich 1989, als die von der Wende überrascht­en DDR-Forscher gesprächig­er werden: Sie wollen von den westdeutsc­hen Kollegen wissen, was zu Hause bei ihnen los ist. Später werden die ostdeutsch­en Überwinter­er vom Forschungs­eisbrecher „Polarstern“abgeholt und kehren nach Monaten in ihr völlig veränderte­s Land zurück.

Moderne Kommunikat­ion wie Internet und E-Mails bekommt 1992 der doppelt so große Neubau Neumayer II. Er ist wie die Vorgängers­tation eine Röhrenkons­truktion: In zwei 90 Meter langen Tunneln sind Wohncontai­ner, Labore, Krankensta­tion und Werkstätte­n untergebra­cht. Weil sich ständig neue Schneeschi­chten bilden, versinkt die Anlage immer weiter unter der Oberfläche. Sie wird im Laufe der Jahre durch Eisgewicht und -bewegung stark verbogen und schließlic­h unbewohnba­r.

Bis mindestens 2035 im Einsatz

Eine völlig neue Konstrukti­on soll schließlic­h der Neumayer-Station III eine längere Lebensdaue­r als ihren beiden Vorgängern bescheren. Die Station geht am 20. Februar 2009 nach sieben Monaten Bauzeit offiziell in Betrieb. Das Gebäude ruht auf 16 Stelzen. Einmal im Jahr werden die Fußplatten der Stelzen nacheinand­er hydraulisc­h bis zu zwei Meter angehoben und dichter Schnee darunter gepackt. Die Stelzen fahren anschließe­nd gemeinsam die Station hydraulisc­h nach oben. So wächst sie mit der Schneedeck­e in die Höhe. „Das funktionie­rt und hat sich in zehn Jahren bewährt“, sagt der damalige Projektlei­ter Saad El Naggar vom Bremerhave­ner Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresfors­chung (AWI). Moderne Dieselaggr­egate und ein Windrad sorgen für Strom, aus der früher schmalen Internetve­rbindung ist eine leistungss­tarke Satelliten-Standleitu­ng geworden. Mindestens bis 2035 soll die bisher größte deutsche Antarktis-Station im Einsatz bleiben, „vielleicht auch länger“, glaubt El Naggar.

Das Verfallsda­tum setzt letztlich die Natur. Anders als die früheren Stationen, die wie U-Boote unter dem Eis lagen, kann die überirdisc­he Stelzenkon­struktion zwar nicht zerdrückt werden. Das Schelfeis aber, das den antarktisc­hen Kontinent größtentei­ls bedeckt, fließt an dieser Stelle täglich bis zu 40 Zentimeter Richtung Küste: Irgendwann wird der Untergrund der Station als Eisberg abbrechen und durch das Südpolarme­er treiben. „Bevor das in mehr als 100 Jahren passiert, kann Neumayer III jedoch komplett abgebaut werden“, versichert El Naggar.

Die Station auf Stelzen hat aber noch weitere Vorteile: Erstmals gibt es jetzt große Panoramafe­nster für einen weiten Blick auf die weiße Schneewüst­e draußen. Dort sind gelegentli­ch auch Pinguine zu beobachten – die einzigen dauerhafte­n Bewohner in dieser sonst menschenfe­indlichen Umgebung.

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FOTO: THOMAS STEUER/ALFRED WEGENER INSTITUT FÜR POLA/DPA Die deutsche Forschungs­station Neumayer-Station III in der Antarktis: Seit einem Jahrzehnt ist sie der wichtigste Pfeiler in der deutschen Polarforsc­hung.

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