Schwäbische Zeitung (Wangen)

Einzigarti­gkeit in der Gemeinscha­ft

In „One of a kind” in Stuttgart stellt Choreograf Jiri Kylián getanzte Demokratie vor

- Von Katharina von Glasenapp

STUTTGART - Hatte Zürich in seiner jüngsten Ballettpre­miere „Bella figura“vier Kreationen des tschechisc­hen Choreograf­en Jiri Kylián zu einem Abend zusammenge­fasst, so ehrt das Stuttgarte­r Ballett den Meister mit einem seiner wenigen abendfülle­nden Werke: „One of a kind“(„Einzigarti­g“) entstand 1998 zur Feier des 150. Jubiläums der niederländ­ischen Verfassung und kreist um das Thema Individuum in einer Gesellscha­ft.

Vor 50 Jahren war Jiri Kylián als 21jähriger Tänzer ins Stuttgarte­r Ensemble gekommen. John Cranko hatte ihn engagiert, immer gefördert und ihm auch nach zwei Jahren seine erste Choreograf­ie „Paradox“für die Stuttgarte­r Noverre-Gesellscha­ft anvertraut: Grundstein für eine außergewöh­nliche Karriere als Choreograf mit einer eigenen Handschrif­t, mit höchst unterschie­dlichen Werken, tiefem Gespür für die Musik und für abstrakte Geschichte­n. Auch als er sieben Jahre später zum Nederlands Dans Theater (NDT) nach Den Haag ging und dieses über Jahrzehnte prägte, blieb die Verbindung mit Stuttgart bestehen. Kyliáns Stücke wurden hier gepflegt, zum Teil wurden sie für das Stuttgarte­r Ensemble und seine Solistinne­n und Solisten entwickelt, und eine der ersten Entscheidu­ngen des neuen Ballettdir­ektors Tamas Detrich war es, Jiri Kylián wieder einzuladen.

Eine Staatsform im Kleinen

Eine Verfassung, eine Staatsordn­ung als Impuls: Wie kann man das in Bewegung darstellen? Kyliáns Lösung ist so klar wie vieldeutig, wenn er eine „Protagonis­tin“auf eine „Gruppe von Individuen“stoßen lässt. Demokratie, friedliche­s Miteinande­r verschiede­ner Nationen und Kulturen – eine Ballettkom­pagnie mit ihren Hierarchie­n scheint eine Staatsform im Kleinen zu sein. Wobei bei Kylián alle Solisten sind, gekleidet in dunkle, individuel­le Trikots von Kostümbild­nerin Joke Visser.

Kylián weitet den Raum aus, die erste Tänzerin (am besuchten dritten Abend Hyo-Jung Kang) erhebt sich aus der ersten Reihe im Parkett, balanciert auf der Rampe zum (leeren) Orchesterg­raben, betritt einen Steg, windet sich in kreatürlic­her Bewegung in diesem Zwischenre­ich zwischen Bühne und Parkett, erobert sich schließlic­h die Bühne. Sie wird sie bis zum Schluss des zweistündi­gen Abends nicht mehr verlassen, auch wenn die Tänzerin nicht immer im Blickfeld ist: Mal kauert sie am Bühnenrand, wird eins mit dem Boden oder einem Seitenpfei­ler. In den beiden Umbaupause­n bleibt sie auf der Bühne, kann man sie und das Ensemble im von Kyliáns Körperspra­che geprägten Training beobachten. Langsam sind die Bewegungen, konzentrie­rt, mit Drehungen, kleinen Sprüngen oder kurzen Schlägen auf Hände und Körper.

Wenn dann nach und nach andere Tänzerinne­n und Tänzer die Bühne betreten, entsteht kaum Verbindung, die erste Frau wird zur stillen Beobachter­in. Aus kurzen Soli werden Begegnunge­n, Duos von Mann und Frau, bald zärtlich behutsam, bald gesteigert in wilder Energie. Nur kurz ist die Gruppe von je zehn Tänzerinne­n und Tänzern in einem kraftvoll dynamische­n Auftritt versammelt.

Im Halbdunkel – mit den starken Lichtbalke­n von Kees Tjebbes und den weißen Elementen von Atsushi Kitagawara – erinnert das Bühnenbild anfangs an ein Gemälde von Feininger oder an eine vergrößert­e Origamifig­ur. Später setzen ein weißer hängender Rhombus und ein dunkler, manchmal rotierende­r Kegel Akzente. Im dritten Teil bestimmen ein Vorhang aus Metallschn­üren und eine dreigeteil­te steile Treppe das Bild. Sie führt die „Protagonis­tin“zum Schluss hinauf ins Licht, ins Paradies, in die Unsterblic­hkeit ...

Die Musik des australisc­hen Komponiste­n Brett Dean mischt Obertonklä­nge, die intensiven Spannungsk­länge der Madrigale von Gesualdo und andere mal suggestiv wirkende, mal vorwärtsdr­ängende Musik zusammen. Besondere Akzente setzt der im klassische­n wie im zeitgenöss­ischen Repertoire erfahrene Cellist Francis Gouton, der zum Teil auf der Bühne mit dem Ensemble interagier­t.

In verschiede­nen Besetzunge­n wird in „One of a kind“die ganze Compagnie miteinbezo­gen, im Zusammenwi­rken von Tanz, Musik, Bühnenbild und Beleuchtun­g entsteht ein Gesamtkuns­twerk von großer Sogwirkung.

Weitere Termine am 9., 10., 16., 19., 23., 30. und 31. März sowie 27. Juli. Karten gibt es unter: www.staatsthea­ter-stuttgart oder Tel. 0711/202 090.

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FOTO: STUTTGARTE­R BALLETT Mal erobert die erste Tänzerin in Stuttgart die Bühne, mal kauert sie am Rand, mal wird sie eins mit dem Boden. Am Ende wird die Frau in „One of a kind“zur stillen Beobachter­in.

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