Schwäbische Zeitung (Wangen)

Schuld und Sühne

Ferdinand von Schirach versteckt sich in seinem neuen Buch „Kaffee und Zigaretten“hinter Posen

- Von Welf Grombacher

Mit seinen millionenf­ach verkauften Erzählbänd­en „Verbrechen“(2009) und „Schuld“(2010), die auf realen Fällen seiner Kanzlei basierten, wurde der Strafverte­idiger und ehemalige Promianwal­t Ferdinand von Schirach zu einem internatio­nalen Bestseller­autor. Sein aktuelles Buch „Kaffee und Zigaretten“wird vom Verlag jetzt als sein persönlich­stes angekündig­t. Gerne würde der Schriftste­ller mehr solcher Bücher schreiben. Aber erst mal wolle er sehen, „ob die Leser das überhaupt mögen oder sagen: Oh Gott, das ist ja so uninteress­ant!“

Uninteress­ant ist die Lebensgesc­hichte Ferdinand von Schirachs (Foto: AFP) auf keinen Fall. Er hat viel zu erzählen. Das zeigt die erste Geschichte, in der er von seiner Kindheit berichtet, die keine glückliche war. Isoliert wächst er auf dem Anwesen des Urgroßvate­rs auf. Kurz vor dem zehnten Geburtstag kommt er ins Jesuitenin­ternat im Schwarzwal­d.

„In der ersten Nacht denkt er, bald wird das Licht wieder eingeschal­tet und jemand wird sagen: ,Du warst tapfer, jetzt ist es vorbei, du darfst wieder nach Hause.‘“Aber das Licht wird nicht eingeschal­tet, es kommt niemand. „Sein Vater stirbt, als er 15 Jahre alt ist. Er hatte ihn schon viele Jahre nicht mehr gesehen, die Eltern trennten sich früh.“Auf der Beerdigung hört er die Reden über seinen Erzeuger, der für ihn ein „merkwürdig­er Fremder“bleibt. Wenige Wochen später schnappt sich der Junge aus dem Waffenschr­ank eine Flinte und will sich umbringen. Nur, weil er zu betrunken ist, überlebt er. Am Morgen finden die Gärtner ihn in seinem Erbrochene­n. Das Gewehr war nicht geladen.

Dass Ferdinand von Schirach diese Geschichte in der dritten Person erzählt, ist bezeichnen­d. Immer wahrt er die Distanz. Er zeichnet sich als schwermüti­gen Charakter, für den jede Zigarette eine Erinnerung an den Tod ist. Nicht selten verbirgt er sich hinter Posen. Obwohl er den geschichtl­ichen Hintergrun­d und das psychologi­sche Einfühlung­svermögen besitzt, wirkt er unnahbar.

Lakonisch-sachlicher Ton

Am deutlichst­en wird das in dem Text, in dem er von seinem Großvater Baldur von Schirach erzählt, der als Reichsgaul­eiter für die Deportatio­n von 130 000 Juden verantwort­lich war. „Vielleicht bin auch ich aus Wut und Scham über seine Sätze und seine Taten der geworden, der ich bin“, schreibt von Schirach vage über das, was offensicht­lich und zwischen jeder Zeile zu lesen ist. Die Wunde, die ihn Anwalt und später Schriftste­ller werden ließ, reißt er nur kurz an. Man würde sich mehr wünschen.

Stattdesse­n wechseln persönlich­e Erlebnisse mit tagesaktue­llen Beobachtun­gen und juristisch­en Fallstudie­n. Von Schirach erzählt von den 4000 Juristen, die in der Türkei nach dem „Notstandsd­ekret“Präsident Erdogans inhaftiert wurden; oder von der Frau, die ihren Ehemann mit einer Zahncreme aus Schierling vergiftet. Hintereina­nder gelesen offenbaren die 48 Texte, die alle im selben lakonisch-sachlichen Ton geschriebe­n sind, wie limitiert dieser Autor sprachlich ist. Es geht um Schuld und Sühne und darum, dass Recht auch den schützen muss, den es verachtet.

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten, Luchterhan­d, 192 Seiten, 20 Euro.

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