Der europäische Aschermittwoch
Grünen-Parteichef Robert Habeck und Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann warnen vor dem Nationalismus
BIBERACH - Dieser Appell hat offensichtlich gesessen. Biberachs Baubürgermeister Christian Kuhlmann eröffnet den Tag in der Stadthalle mit dem Geständnis, ihm sei die „Lust am politischen Aschermittwoch vergangen“. Er beklagt die Verrohung der Sprache und fordert stattdessen Respekt und die Bereitschaft zum Dialog.
Zugegeben: Es ist kein einfaches Intro für die beiden Redner, den Grünen-Parteichef Robert Habeck und Baden-Württembergs Landesvater Winfried Kretschmann, wenn quasi der Hausherr am politischen Aschermittwoch Respekt fordert. An einem Tag, an dem die Redner für gewöhnlich keine Gnade kennen, von politischen Freundschaften ganz zu schweigen. An dem es auch mal wehtun darf, verbale Tiefschläge erlaubt sind – und im wahrsten Sinne des Wortes Narrenfreiheit herrscht.
Doch ohnehin wirken Kretschmann und Habeck an diesem Mittwoch nicht so, als sei ihnen nach dem schnellen Kalauer zumute, nach Pointen auf Kosten der Parteikonkurrenz auf Landes- und Bundesebene. Die Lage ist ihnen zu ernst. Ihr Blick geht nach Europa – dessen Zukunft im Jahr der Europawahl für sie auf dem Spiel steht. In ihren Reden erwecken sie ein apokalyptisches Unbehagen, als bestünde eine 50prozentige Chance, dass nach den Europawahlen am 26. Mai alles auseinanderbricht – das Stimmungsbild in einigen EU-Mitgliedsstaaten lässt das als gar nicht so unwahrscheinlich erscheinen.
Allgegenwärtiger Populismus
Bevor Habeck also vor dem allgegenwärtigen Populismus warnt, greift er die mahnenden Worte des Baubürgermeisters Kuhlmann auf. „Kretschmann und ich sind nervös, wir haben Teile der Rede gestrichen“, sagt Habeck, als wolle er sich nicht gemeinmachen mit der Rhetorik der Populisten, die er in der kommenden halben Stunde kritisieren wird. 2018 sei schon das „Jahr der politischen Aschermittwochsreden“gewesen, kommentiert er die zunehmende verbale Verschärfung der Debatten der vergangenen Monate.
Habecks Blick geht zunächst nach Übersee. Das Motto „Make America great again“(„Macht Amerika wieder großartig“) des US-Präsidenten Donald Trump und der Slogan „Take back control“(„Holt euch die Kontrolle zurück“) der Brexit-Befürworter zeigten, dass man zurückwolle in alte Zeiten. „Man kommt nicht nach vorne mit der Vergangenheit“, sagt Habeck. Das gelte auch für die EU. „Wir müssen Ja zu Europa sagen. Es ist nicht perfekt, aber die einzige Chance, nicht in die düstere Vergangenheit zurückzufallen.“Wer mehr Europa wolle, der müsse die Grünen wählen.
Denn in Deutschland stehen die Zeichen nach Habecks Aussagen nicht auf einen europäischen Aufbruch. Die Antwort der Bundesregierung auf die jüngsten Reformideen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine engere europäische Zusammenarbeit sei „beredtes Schweigen“gewesen. Dabei sei es ihre „Pflicht, die europäische Vereinigung voranzutreiben und die Hand Macrons zu nehmen“, fordert der gebürtige Lübecker.
Stattdessen würden sie rumlavieren beim Umgang mit dem autokratischen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei, die derzeit eine AntiBrüssel-Kampagne fährt. „Die EVP muss selbst dafür sorgen, dass Fidesz nicht mehr Teil der Parteienfamilie ist“, sagt Habeck. CDU und CSU, die wie Fidesz der Europäischen Volkspartei (EVP) angehören, hielten sich dabei zurück und verwiesen auf Orbán selbst. „Man darf den Bock nicht zum Gärtner machen, sondern muss das Feld selbst bestellen.“
Während er auf der Bühne der übervollen Stadthalle spricht, mit seinen hochgekrempelten Hemdärmeln, der blauen Jeans und seinem Headset-Mikrofon, wirkt Habeck wie ein Motivationstrainer, der mit „Ihr schafft das“-Sprüchen sein Publikum beschwört. Und das ist mit gut 1100 Gästen überaus bunt gemischt. Damen mit grün gefärbten Haaren sitzen zwischen Frauen in Hemd und Bluse, Männer mit wilden Vollbärten sitzen neben Glattrasierten, die vor einigen Jahren vermutlich noch zur treuen CDU-Wählerschaft gehörten.
Habeck redet sich warm
Der 49-Jährige feuert immer mehr Silben pro Minute in ihre Richtung, schon nach wenigen Minuten muss er zur Wasserflasche greifen. Er spricht selbst dann weiter, wenn seine Rede im lauten Applaus nach Aussagen wie der folgenden untergeht: Der aufkeimende Populismus in Deutschland sei „europäische Normalität“, höre Habeck immer wieder. „Wenn das die europäische Normalität ist, dann will ich sie nicht haben.“
Als Habeck thematisch wieder zurück in Deutschland ist, kann er sich Spitzen gegen die Große Koalition nicht verkneifen. Eine „Kompromissmaschine“sei die GroKo. Union und SPD würden sich fragen: „Wer sind eigentlich wir“, statt – so formuliert Habeck es jugendlich-flapsig – „Was ist eigentlich gerade Phase“, wie es die Grünen tun würden.
Dann geht der promovierte Philosoph in den Zweikampf. Er knöpft sich CDU-Chefin Annegret KrampKarrenbauer vor und fordert „AKK“auf, sich für ihre Äußerung von vergangener Woche zu entschuldigen. Kramp-Karrenbauer hatte beim Stockacher Narrengericht einen Witz über die Einführung von Toiletten für das dritte Geschlecht gemacht und dafür viel Kritik einstecken müssen. „,AKK’ hat offensichtlich ein Problem mit zu viel bunt“, sagt er. Bei aller politischen Härte solcher Veranstaltungen sei es „billig, auf Minderheiten rumzuhacken“.
Es folgen: die ersten richtigeen Pointen dieses Tages. „Bei Minderheiten weiß ich nicht, ob ich kurz auf die SPD eingehen soll“, sagt Habeck. Wenn der sozialdemokratische Finanzminister Olaf Scholz und seine Partei so weitermachen, wenn er weiterhin keine Finanztransaktionssteuer und eine Digitalsteuer auf europäischer Ebene schaffe, werde die SPD beim „Minderheitenschutz ankommen“.
Dafür gebe es auch andere Gründe. Zwar werde die Sprache in der Politik „polemischer, aber auch infantiler“– das liege vor allem an den Namen für „nur gute und schöne Gesetze“wie dem „Gute-Kita-Gesetz“. Irgendwann, so Habeck, sei man beim „Ferkel-Kastrations-SchnippiSchnappi“-Gesetz angekommen.
Lob für Schüler
Bevor Habeck an seinen Parteifreund Kretschmann abgibt, lobt er die Schüler, die bei den „Fridays for Future“-Demonstrationen für den Klimaschutz protestieren. Einige von ihnen schwänzen dafür die Schule, was ihnen viel Unmut einbringt – und Einträge in den Klassenbüchern. Diese würden „in wenigen Jahren mehr wert sein als die Ehrenurkunden bei den Bundesjugendspielen“, prophezeit Habeck.
Auftritt Landesvater Kretschmann. Der 70-Jährige gibt sich staatstragender als sein Parteikollege aus Norddeutschland, stellt sich ans Rednerpult, nippt ab und zu an seinem Tee. Kretschmanns Blick gilt zunächst dem Südwesten, bevor er allmählich rauszoomt auf Europa. „Es wird jetzt nicht besser, aber langsamer“, frotzelt er selbstironisch zu Beginn. Schwäbisch-bescheiden lobt er zunächst seine Heimat. „Wir neigen nicht zur eruptiven Übertreibung wie die bayerischen Nachbarn. Niemand sagt einem, dass man sich in der innovativsten Region Europas befindet. Das muss man schon selbst herausfinden.“
Als Seniorpartner der grünschwarzen Landesregierung ist der Ministerpräsident in der bequemen Position, nicht gegen den Junior von der CDU schießen zu müssen – auch wenn es viel Knatsch gab in der vergangenen Zeit. Nur kurz schneidet er die Dieselfahrverbote an. „Die Probleme, die wir da gerade haben – die sind nicht von uns gemacht.“
Ein Bekenntnis zu Europa
Lieber erinnert Kretschmann daran, dass Baden-Württemberg „im Herzen Europas liegt, das uns Wohlstand gebracht hat“. Und er warnt nationalistische Regierungen vor einem Kontrollverlust. „Der beste Weg, die Kontrolle zu verlieren, ist der Rückfall in den Nationalismus. Die Länder sind viel zu klein, um die großen Probleme alleine zu lösen.“Das gelte auch für Großbritannien, das vor dem EU-Austritt steht. „Großbritannien ist ein europäisches Land, das sich ausliefert.“Auch für das NochEU-Mitglied gelte demnächst: „Wenn du nicht am Tisch sitzt, stehst du auf der Speisekarte.“
Daher fordert der Sigmaringer: „Lassen Sie uns den 26. Mai zu einem Tag der Demokratie machen.“Dabei gehe es um eine Richtungsentscheidung, es sei die „wichtigste Europawahl, die wir haben“. Denn die freiheitliche Demokratie sei in Gefahr und stehe unter innerem und äußerem Druck, sagt Kretschmann. Er warnt vor Populisten, die zurückwollten in eine Welt der „Kriege und Kanonen“und mehr Abschottung.
Doch Kretschmann gibt sich optimistisch. Selbst die AfD-Wähler könne man mit neuer Zuversicht von ihrem Pessimismus befreien, der sie alle eine. Dabei gehe es nicht um „schalen Optimismus“. Solchen Mut machen Kretschmann die Klimastreik-Schüler, auch er lobt ihren Einsatz. Auch wenn er als Ministerpräsident pflichtschuldig sagen müsse: „Nicht im Unterricht.“