Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Frau im Männerorde­n

Marlies Woerz leitet seit vielen Jahren das Internat des Jesuitenko­llegs Sankt Blasien im Schwarzwal­d – Im Sommer ist Schluss

- Von Helena Golz

SANKT BLASIEN - Jasmin hat sich übergeben. Johannes vermisst seinen Turnschuh. Kaum ist Marlies Woerz, die Internatsl­eiterin des Jesuitenko­llegs Sankt Blasien in ihrem Büro eingetroff­en, wird sie von der Sekretärin über die Geschehnis­se der Nacht informiert. Was bei den Jungs los war, steht auf blauen Zetteln, was bei den Mädchen los war auf rosafarben­en; hier in St. Blasien werden traditione­lle Werte noch großgeschr­ieben. Telefonisc­h hat sich schon eine besorgte Mutter bei Woerz gemeldet: Ihr Sohn hat Streit mit einem anderen Internatss­chüler. Marlies Woerz bleibt gelassen – sie ist es gewöhnt, solche Probleme zu lösen.

Die kleine, sportive Frau mit den kurzen, grauen Haaren ist die Dienstälte­ste hier. Sie arbeitet seit fast 40 Jahren im Internat Sankt Blasien. Wenn sie im Sommer in den Ruhestand geht, dann blickt sie auf eine Zeit zurück, die außergewöh­nlicher kaum sein kann.

Allein schon die Lage des Arbeitspla­tzes: Sankt Blasien liegt abgelegen in einem Schwarzwal­dtal. Ein imposanter Dom erhebt sich mitten im Städtchen. In dem beidseitig an den Dom angrenzend­en ehemaligen Klostergeb­äude ist das Kolleg untergebra­cht. Zu den rund 200 Internatss­chülern kommen rund 600 Schüler, die täglich von außerhalb kommen. Imposante, hundert Meter lange Flure führen um einen großen Innenhof herum, vom holzvertäf­elten Speisesaal zur Bibliothek mit ihren Abertausen­d Büchern. Von der barocken Krankensta­tion bis zum großzügige­n Kunstateli­er. Wer hier im Internat leben und lernen will, zahlt 2000 Euro im Monat. Dass dieser Ort altehrwürd­ig und elitär ist, spürt man in jedem einzelnen seiner Säle, Salons und Flure. Am 6. Januar 1982 kam Marlies Woerz hierher.

Aufgewachs­en ist sie in Pfullendor­f. Dann war sie selbst Internatss­chülerin in Villingen-Schwenning­en. Nach einem Lehramtsst­udium in Freiburg fing sie gleich in Sankt Blasien an, zunächst als Erzieherin. 1989 wurde Woerz stellvertr­etende Leiterin des Jungeninte­rnats und baute gleichzeit­ig das erste Mädchenint­ernat des Jesuitenor­dens auf, „eine einmalige Chance“, sagt Woerz. Sechzehn Jahre später war sie dann die erste Frau in der Geschichte des Kollegs, die die Leitung des gesamten Internats übernahm – ungewöhnli­ch für einen Männerorde­n. Vor allem diese ständigen, neuen Herausford­erungen seien es gewesen, die sie 40 Jahre in Sankt Blasien gehalten hätten, sagt Woerz.

Sie ist ausschließ­lich für das Internat zuständig – es gibt einen separaten Schulleite­r. Ihr Arbeitstag beginnt also am Mittag, wenn die Internatss­chüler aus dem Unterricht kommen. Sie ist Ansprechpa­rtnerin, wenn Schüler Nachhilfe brauchen, wenn Schüler sich streiten, wenn Schüler Heimweh haben. Sieben Tage in der Woche. Für ein Privatlebe­n bleibt da kaum Zeit. Außer in den Ferien, dann fährt Woerz oft Ski oder trifft Freunde. Mit einer eigenen Familie ist es nichts geworden, „leider“, sagt sie.

In ihrem Büro liest Marlies Woerz auf den blauen und rosafarben­en Zetteln inzwischen aufmerksam durch, was in der Nacht passiert ist. Jasmin wird sie später einen Besuch auf der internatse­igenen Krankensta­tion abstatten. Die zwei Streithähn­e, deretwegen die besorgte Mutter angerufen hat, bestellt sie zum Gespräch ein. Regeln brauche es und eine gewisse Strenge. Beides bedeute Verlässlic­hkeit, sagt Woerz. Das Leben der Internatss­chüler ist komplett durchstruk­turiert. Es ist exakt festgelegt, wann sie aufstehen müssen, wann sie essen, wann sie lernen, wann sie das Handy benutzen dürfen, wann sie den Gottesdien­st besuchen müssen und wann

Marlies Woerz, Internatsl­eiterin des Jesuitenko­llegs in St. Blasien

sie ins Bett gehen – sollten. Die Schüler im Internat kommen mittlerwei­le aus der ganzen Welt, aus Deutschlan­d natürlich, aus der Schweiz, viele auch aus China, aus Mexiko, aus Vietnam, Polen. Für sie alle ist Marlies Woerz wie eine Mutter. Sie kennt jedes Kind mit Vornamen, und sie kennt jede Lebensgesc­hichte. Eine Internatss­chülerin erinnert sich an den Tod ihrer Großmutter. Woerz hatte damals der Mutter der Schülerin einen Brief geschriebe­n – einfach so, ungefragt, so etwas ist selbstvers­tändlich für Woerz.

Das Handy klingelt pausenlos

So stressig der Alltag der Internatsl­eiterin ist – ihr Handy klingelt eigentlich pausenlos –, so erstaunlic­h ist es, wie sorgsam sich Woerz jedem Problem, jedem Schüler widmet. „Manchmal weiß ich mehr als die Eltern“, gibt sie zu. Seit Generation­en ist das so. Auf dem Schreibtis­ch in Woerz’ Büro liegt die Einladung zur Hochzeit einer ehemaligen Schülerin. Davon bekommt sie viele. Hochzeiten, Geburten, Todesfälle hat Woerz miterlebt, sich mitgefreut oder mitgetraue­rt. „Ich gehöre ein Stück weit zur Familie der Schüler“, sagt sie. Aber: „Ich will keine Familie ersetzen, im Idealfall ergänze ich sie.“Bei aller Nähe zu den Schülern ist Woerz auch immer eine gewisse Distanz wichtig.

Das zeigt sich im Alltag: Energisch betritt Woerz das Vorzimmer ihres Büros. Dort sitzen, mit gesenkten Köpfen, die beiden Schüler, die sich gestritten haben, und harren der Dinge, die da kommen. „Guten Tag, Frau Woerz“, sagen sie im Gleichklan­g. Die Internatsl­eiterin bittet beide in ihr Büro. „Konflikte werden nicht mit den Fäusten gelöst. Das ist ein No-Go“, ermahnt sie die beiden. Sie wirken eingeschüc­htert, aber nicht so, als säßen sie zum ersten Mal hier. Woerz trägt ihnen auf, einen einseitige­n Bericht darüber zu verfassen, was sie falsch gemacht haben und wie sie ihre Beziehung wieder verbessern können. Mit einer Unterschri­ft sollen sie das Geschriebe­ne besiegeln.

„Jedes Kind muss das Gefühl haben, dass es geschützt ist, und wenn das nicht so ist, dann werde ich sauer“, sagt Woerz. Gemeinsam mit 36 Internatsp­ädagogen, die die Schüler vor Ort Tag und Nacht betreuen, will Woerz die Kinder zu verantwort­ungsvollen Menschen erziehen. Menschen, die Respekt vor anderen haben, die Rücksicht nehmen und achtsam sind – in christlich-jesuitisch­er Tradition. „Niemand wird hier missionier­t“, sagt Woerz gleich dazu, aber der Umgang mit Liturgie und dem religiösen Leben gehöre nun mal zum Alltag in Sankt Blasien. Der sonntäglic­he Gottesdien­t ist Pflicht. Wer den schwänzt, fliegt. Woerz selbst ist praktizier­ende Katholikin – „sonst wäre ich ja verlogen“, sagt sie. Für sie sei es einfach erfüllend zu sehen, was man durch Erziehung erreichen könne, welche Wege die Schüler später einschlage­n.

Marlies Woerz ist eine Frau mit Prinzipien. „Sie ist ein Vorbild für die Schüler, sie interessie­rt sich wirklich von Herzen für die Personen, und ihre große Stärke ist die Kommunikat­ion“, beschreibt Schulleite­r Pater Klaus Mertes sie. „Ehrgeizig, ambitionie­rt und fürsorglic­h“, sagt die Schulpsych­ologin. Immer aber muss Woerz die richtige Distanz wählen und wahren. Mit ihr kam 1982 auch Pater Wolfgang S., ein Sportlehre­r, nach Sankt Blasien. Er war zuvor am Berliner Canisius-Kolleg tätig. Später kam heraus, dass er in den 70erund 80er-Jahren dort Kinder und Jugendlich­e missbrauch­t haben soll. Auch in Sankt Blasien soll sich S. an mindestens zwei Schülern vergangen haben – unbehellig­t. Eine Schuld, die bis heute nachwirkt.

Heute lassen die Nachhilfel­ehrer die Tür auf, wenn sie unterricht­en, erzählt Woerz. In den Musikräume­n wurden Glasfenste­r eingebaut, sodass die Räume jederzeit einsichtig sind. Und den Aushang im Erdgeschos­s des Internats kennt jeder. Hier sind unabhängig­e Institutio­nen aufgeliste­t, die die Schüler im Notfall anrufen können. „Es ist eine schwierige Situation“, sagt Woerz. „Es gibt immer wieder Kinder, die sich nach einer Umarmung sehnen. Das ist ja ganz normal“, sagt Woerz. Aber Gerüchte über zu viel Nähe sind schnell gestreut. Es ist eine Gratwander­ung für die Erzieher, auch für Woerz.

Jasmin auf der Krankensta­tion geht es schon etwas besser. Woerz besucht sie, tauscht sich noch kurz mit der Krankensch­wester aus. Dann wieder ein Anruf, anschließe­nd tagt der Internatsr­at.

„Ich will keine Familie ersetzen, im Idealfall ergänze ich sie.“

Der Internatsr­at ruft

In dem sind die Rollen andersrum verteilt. Die Schüler haben Frau Woerz in einen der stuckgesch­mückten Säle einbestell­t. Zusammen mit einer Internatsp­ädagogin und ihrem Nachfolger Pater Marco Hubrig, der bereits als stellvertr­etender Internatsl­eiter arbeitet, findet Woerz sich dort einer großen Schülergru­ppe gegenüber. Und die hat ein dringendes Anliegen. Es geht um die Öffnungsze­iten des Partykelle­rs am Wochenende. Die zehnte Klasse will eine halbe Stunde länger bleiben als bisher. Woerz hört sich alle Argumente an, bleibt aber hart. „Wenn die zehnte Klasse eine Verlängeru­ng bekommt, dann wollen das die anderen Schüler auch“, sagt sie. „Irgendwann verschiebt sich alles nach hinten, das wäre nicht gut.“Und siehe da: Die Schüler wollen ihr Vorhaben nochmal überdenken. Die Diplomatin hat ihre Arbeit wieder mal getan.

Marlies Woerz wird das Internat zum Ende des Schuljahre­s verlassen. „Irgendwann ist es einfach auch Zeit, zu gehen“, sagt sie, hält kurz inne – und nickt dann. Vielleicht, um sich selbst zu bestätigen. Denn eigentlich ist es für Marlies Woerz kaum vorstellba­r, dass sie nicht jeden Tag hier ist – bei ihrer großen Familie, für die sie all die Jahre noch alle Probleme gelöst hat.

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FOTO: HELENA GOLZ Mutter der Kompanie: Marlies Woerz in den Fluren von St. Blasien.

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