Motiv des Utrecht-Täters gibt Rätsel auf
Mehrere Tote nach Schüssen in Straßenbahn – Terroranschlag oder Beziehungstat
UTRECHT (dpa) - Ein 37-jähriger Mann soll in einer Straßenbahn in der niederländischen Großstadt Utrecht am Montagmorgen drei Menschen erschossen haben. Fünf weitere Fahrgäste wurden verletzt, drei von ihnen befinden sich laut Polizei in kritischem Zustand. Am Abend wurde der Hauptverdächtige bei einer Wohnungsdurchsuchung in der Innenstadt Utrechts festgenommen, danach wurde die zuvor ausgerufene höchste Terrorwarnstufe wieder aufgehoben. Beim Verdächtigen handelt sich um den gebürtigen Türken Gökmen T. Über das Motiv des Täters wurde gerätselt. Die Polizei hält einen Terrorakt, aber auch eine Beziehungstat für möglich.
Utrechts Bürgermeister Jan van Zanen hatte zunächst von einem „terroristischen Motiv“gesprochen, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte von einem „Anschlag“. Später zog Polizeisprecher Bernard Jens auch „eine Beziehungstat“in Betracht. Am Abend erklärte dann Rutker Jeuken vom Innenministerium: „Im Augenblick denken wir, dass es ein terroristisches Motiv sein könnte, aber wir können auch anderes nicht ausschließen.“
Von Zeugen gab es nach Medienberichten unterschiedliche Hinweise: Ein Augenzeuge will gesehen haben, dass es der Täter gezielt auf eine Frau abgesehen habe, andere Zeugen wollen gehört haben, dass vier Männer „Allahu Akbar“(Gott ist groß) gerufen hätten. Bestätigt wurde beides nicht. Die Hinweise auf eine Beziehungstat mehrten sich aber. Offenbar vernahm die Polizei den Bruder des 37-Jährigen. Im niederländischen Radio erzählten Bekannte, dass T. die Scheidung von seiner Frau nicht verkraftet habe. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete unter Berufung auf Verwandte von T., dass er in der Tram auf eine Frau wegen einer Familienangelegenheit geschossen habe. Dann habe er das Feuer auf jene eröffnet, die ihr hätten helfen wollen.
Sicher ist: Die Gewalt hat Unschuldige getroffen – und T. ist polizeibekannt. Im Dezember 2013 wurde er wegen versuchten Mordes verurteilt, vor zwei Wochen begann eine Verhandlung wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs. Darüber hinaus wurde er wegen Ladendiebstahls, Sachbeschädigung und Beleidigung vor Gericht gestellt.
UTRECHT (dpa) - Es herrscht gespenstische Stille in Utrecht. Am Platz des 24. Oktober im Westen der niederländischen Großstadt stehen zwei gelbe Straßenbahnen – bewegungslos, wie Mahnmale. „Geen Dienst“steht auf dem Hinweisschild an ihrer Vorderseite geschrieben, „Außer Dienst“. In einer Bahn waren am Montag um 10.45 Uhr Schüsse gefallen, drei Menschen starben, fünf wurden verletzt – davon drei schwer.
Terror wird nicht ausgeschlossen
Knapp acht Stunden lang ist Utrecht im Bann von Terror und Angst. Ein Terroranschlag wird nicht ausgeschlossen. Und der mutmaßliche Täter ist zunächst nicht gefunden. Keiner weiß, ob nicht noch ein Anschlag folgt. Es herrscht höchste Alarmstufe in der Provinz. Bürger in Utrecht sollen die Häuser nicht verlassen. Erst gegen 18.30 Uhr kommt Entwarnung: Die Polizei hat den Hauptverdächtigen festgenommen. Über sein Motiv wird aber weiter gerätselt.
Noch immer wird Terrorismus nicht ausgeschlossen. Aber zugleich gibt es auch Hinweise, dass der Angriff eine entsetzliche Beziehungstat sein könnte. Der Verdächtige, ein 37jähriger türkischstämmiger Mann, hat ein langes Vorstrafenregister – auch wegen Gewalttaten. Noch vor wenigen Wochen stand er wegen des Vorwurfes der Vergewaltigung vor Gericht. Nachbarn und Bekannte sagten dem niederländischen Radio, dass er die Scheidung von seiner Frau nicht verkraftet habe. Dazu passen die Schilderungen von Augenzeugen. Der Mann habe gezielt auf eine Frau geschossen, sagte der junge Niederländer Niels der Zeitung „De Gelderlander“. Männer wollten der Frau helfen, war sein Eindruck. Und dann schoss der Täter erneut, so erinnert sich Niels. „Er zielte auf die Leute, die versuchten, der Frau zu helfen.“
Daan Molenaar saß in der Straßenbahn, in der der Täter das Feuer eröffnete. Molenaar war in den vordersten Teil der Bahn gestiegen, wie er im niederländischen Radio erzählt. „Das war mein Glück.“
Auf einmal habe die Bahn gestoppt. Zuerst habe er nicht kapiert, was los sei. Die Türen seien noch zu gewesen. Und dann habe er die Frau gesehen, sagte er. „Zunächst dachte ich: ein Unfall.“Dann hätten ein paar Leute die Frau weggetragen. Dann erst habe er den Mann mit der Pistole gesehen. „Und dann dachte ich: Schnell weg hier.“Als die Türen der Straßenbahn aufgegangen seien, seien Passagiere rausgerannt. Man habe erneut Schüsse gehört. „Wie in einem amerikanischen Western.“
Gespenstische Stille
Stunden später liegt der Tatort fast verlassen da. Mit rot-weißen Bändern hat die Polizei den Platz und die angrenzenden Wohnviertel weiträumig abgesperrt. Der Platz ist ein gesichtsloser Verkehrsknotenpunkt mit einer Hochstraße, rund herum stehen Bürohochhäuser, an der Ecke ist eine Tankstelle. Polizisten kontrollieren die Zufahrtswege, Krankenwagen stehen an der Tankstelle. Auf den Straßen der sonst so gemütlichen Studentenstadt ist es ungewöhnlich ruhig. Kaum ein Fahrrad ist zu sehen, nur wenige Menschen sind unterwegs. Die Polizei fordert die Bürger auf, in ihren Häusern zu bleiben, bis der mutmaßliche Täter gefasst sei. Schulen und Büros schließen die Türen. Über dem Viertel kreisen die Hubschrauber der Polizei.
Das Ehepaar De Groot steht am Fenster seines kleinen Reihenhauses aus rotem Backstein. Beide schauen fassungslos auf das Treiben auf dem Platz vor ihrem Vorgarten. „Schrecklich, schrecklich“, stammelt die ältere Dame immer wieder. Sie war durch die Sirenen der Polizei aufgeschreckt worden, wie sie durch die verschlossene Haustür sagt. „Wir machen nicht mehr auf, wir haben Angst.“
In einem nahe gelegenen Hotel lässt Manager Reint van Rooij die Tür nur noch von Hand öffnen. „Vorsichtsmaßnahme, auf Anraten der Polizei“, sagt er. Die meisten Gäste hatten am Morgen bereits ausgecheckt, als die Schüsse nur wenige Meter entfernt gefallen waren.
Das Stadtviertel Kanaleneiland, in dem die Schüsse fielen, ist häufiger als sozialer Brennpunkt negativ in den Schlagzeilen gewesen. „Es ist furchtbar für die Opfer und die Familien“, sagt van Rooij. „Was auch immer es war, Terror oder nicht.“
Die 49-jährige Linda aus Groningen sitzt im Café des Hotels. „Ich hätte in der Straßenbahn sitzen sollen“, sagt sie mit zitternder Stimme. Wegen eines Streiks am Morgen war sie später als geplant angekommen. „Da war die Bahn schon weg.“