Chemnitz kommt nicht zur Ruhe
Auftakt im Mordprozess und das Begräbnis eines Neonazis mit hunderten Gästen – Umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen
DRESDEN/CHEMNITZ (dpa) „Chemnitz lässt momentan nichts aus, in den Schlagzeilen zu bleiben“, sagt der Jurist und Politiker Klaus Bartl mit einem Unterton von Sarkasmus. Am Montag ist er von seiner Heimatstadt Chemnitz nach Dresden gekommen, weil ein Gericht hier den gewaltsamen Tod eines Mannes aufklären soll. Die als Totschlag angeklagte Tat hat sich am 26. August 2018 am Rande des Chemnitzer Stadtfestes ereignet. Zwei Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien sollen nach einem Streit den Deutschen Daniel H. erstochen haben. Vor Gericht verantworten muss sich derzeit nur der Syrer Alaa S. Der mutmaßliche Mittäter Farhad A. ist auf der Flucht und wird weltweit gesucht.
Der Fall erregte Aufsehen, weil es in Chemnitz danach zu Angriffen auf Flüchtlinge und ausländische Restaurants kam. Bei Demonstrationen wurde damals auch ein Mann gesichtet, der am Montag in Chemnitz zu Grabe getragen wurde: der Hooligan und Rechtsextremist Thomas Haller, führender Kopf der früheren Vereinigung HooNaRa (Hooligans-NazisRassisten).
Hooligans hatten nach der Messerattacke vom August die erste Demonstration gegen Flüchtlinge in Chemnitz angeführt. Als unlängst Fans des Fußball-Regionalligisten Chemnitzer FC den nach einer Krankheit gestorbenen Haller mit einer aufwendigen Inszenierung und technischer Unterstützung des Vereins im Stadion ehrten, war der Ruf von Chemnitz erneut ruiniert.
Zu Hallers Begräbnis kommen Hunderte Gesinnungsgenossen, teils in schwarzen Szeneklamotten, die Augen hinter dunklen Sonnenbrillen verborgen. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot von mehreren Hundert Beamten präsent, gewährleistet aber lediglich Ordnung und Sicherheit. Denn der Aufmarsch ist offiziell keine Kundgebung – allerdings ist er eine Demonstration der Stärke.
Auch beim Prozess in Dresden gibt es umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen. Besucher und Medienvertreter dürfen den Saal erst nach strengen Kontrollen betreten.
Bartl hat auch berufliches Interesse an dem Prozess, der wegen des großen öffentlichen Interesses und wegen Sicherheitsbedenken in einen speziellen Saal des Oberlandesgerichtes Dresden verlegt wurde. Die Beweislage ist nach Ansicht von Prozessbeobachtern dünn, die Verlesung der Anklage nimmt nur wenige Minuten in Anspruch. Bartl sieht das Schwurgericht vor einer „anspruchsvollen Aufgabe“. Er sei fest davon überzeugt, dass die zuständige Kammer das mit der notwendigen Souveränität untersucht. Wenn es Zweifel an der Schuld des Angeklagten gebe, müsse das Gericht das tun, was das Gesetz vorsehe – freisprechen.
Bis zu einem Urteil dürfte es noch ein weiter Weg sein. Der Auftakt des Prozesses verläuft zäh. Noch bevor es zum Verlesen der Anklage kommt, verliest Verteidigerin Ricarda Lang eine Liste von Fragen, hinter denen Zweifel an der Unbefangenheit des Gerichtes stehen. Sie will von den Berufs- und den Laienrichtern beispielsweise wissen, ob sie schon einmal an Kundgebungen der AfD oder der islamfeindlichen Pegida-Bewegung teilnahmen, ob sie Mitglieder oder Unterstützer der AfD sind oder wie sie zu Flüchtlingen generell stehen. Ihr Mandant gehöre zum „erklärten Feindbild“von Anhängern der AfD, sagt sie. Dabei habe er ein Recht auf ein faires Verfahren.
Ausgerechnet die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) hat der Verteidigung zuvor eine Steilvorlage geliefert. Sie hoffe für die Familie des Opfers sehr, dass es zu einer Verurteilung komme, damit die Angehörigen Ruhe finden könnten, sagte sie der Berliner Zeitung „taz“. Bei einem Freispruch würde es „schwierig für Chemnitz“. Rechtsanwältin Lang stellt deshalb den Verdacht einer politischen Einflussnahme auf das Verfahren in den Raum. Ihr Verteidigerkollege Frank Wilhelm Drücke fordert später die Einstellung des Verfahrens und die Aufhebung des Haftbefehls.
Der Zeuge Dmitri M., der bei der Gewalttat vom August 2018 mit einem Messer schwer verletzt wurde, vermag den Angeklagten am Montag nicht als Messerstecher zu identifizieren. Der aus Russland stammende Mann kann lediglich beschreiben, dass eine Person in heller Kleidung auf das bereits am Boden liegende Opfer Daniel H. einstach. Nach der Befragung sind die offenen Fragen nicht weniger geworden.