Schwäbische Zeitung (Wangen)

Rendezvous mit dem Sandmännch­en

Ein Wochenende in Erfurt führt beinahe zwangsläuf­ig zu einer Begegnung mit Krämern und Kika-Helden

- Von Christiane Wohlhaupte­r

Wer nach●Erfurt kommt, erlebt eine Stadt mit vielen Fachwerkhä­usern, Cafés und Restaurant­s. Die thüringisc­he Landeshaup­tstadt überzeugt als interessan­tes Wochenendz­iel.

Am Hauptbahnh­of geht der Blick gleich unweigerli­ch zu dem großen Schriftzug „Willy Brandt ans Fenster“. Das muss der Erfurter Hof sein. Dort, wo 1970 die deutsch-deutsche Annäherung begonnen hatte, als Bundeskanz­ler Willy Brandt auf den DDR-Ministerpr­äsidenten Willi Stoph traf. Ob es an dieser Stelle mehr dazu herauszufi­nden gibt? Also hineinspaz­iert ins Thüringer Tourismusb­üro. Dort findet sich zwar auf den ersten Blick nichts zum Erfurter Gipfeltref­fen, aber auf einen Gipfel geht es gewisserma­ßen trotzdem: Mit Virtual-Reality-Brille auf der Nase und auf einem gemütliche­n Stuhl platziert landet der Besucher auf dem 978 Meter hohen Schneekopf im Thüringer Wald. Und das ist noch nicht alles: Die virtuelle Entdeckung­stour liefert gewisserma­ßen einen Schnelldur­chlauf in Sachen Thüringer Sehenswürd­igkeiten: von der Wartburg bei Eisenach durch den Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar bis zum Zeiss-Planetariu­m in Jena und zur Krämerbrüc­ke in Erfurt.

Freitag: Bewohnte Brücke

Jetzt aber wieder in die echte Welt hinausspaz­iert. Etwa 120 Meter lang und 26 Meter breit ist die Krämerbrüc­ke, die sich als einzige bewohnte Brücke nördlich der Alpen behauptet. Wer seitlich auf die Fachwerkhä­user blickt, sieht, dass unter den Fachwerkhä­usern mit den vielen kleinen Geschäften die Gera fließt. Die Ägidienkir­che markiert das östliche Ende der Krämerbrüc­ke. Sie bietet von ihrem Roten Turm aus einen Überblick über Altstadt und Umgebung.

Samstag:

In Erfurt hat der Kinderkana­l von ARD und ZDF seinen Sitz. Und über die ganze Stadt verteilen sich die Helden aus dessen Programm. Bernd das Brot wartet mit ausgebreit­eten Armen in der Nähe des Rathauses, Maus und Elefant haben es sich am Anger bequem gemacht, das Sandmännch­en wartet auf einer Bank bei der Krämerbrüc­ke auf Sitznachba­rn, das blaue Kikaninche­n steht an einem Spielplatz, und die Tigerente treibt sich bei der Predigerst­raße herum. Alle sind sie beliebte Fotomotive, werden umarmt, geküsst oder beklettert. Bewaffnet mit dem Stadtplan, in den sie eingezeich­net sind, entwickelt man einen sportliche­n Ehrgeiz. Irgendwo am Junkersand sollen doch auch Käpt’n Blaubär und Hein Blöd zu finden sein? Erst als der Blick aufs Wasser fällt, sind dort die zwei Figuren in ihrem gelben Boot zu erkennen. Die vorbeischw­immenden Enten zeigen sich weniger beeindruck­t von der Szene als die Fotografen an Land.

Vor der Touristinf­ormation startet um 14 Uhr die Stadtführu­ng durch die Altstadt und zur Zitadelle Petersberg. Der Stadtführe­r bringt seine Gefolgscha­ft zunächst zur Alten Synagoge. Für sie ist jetzt aber nur ein Blick von außen eingeplant. Es geht durch schmale Gassen, an Fachwerkhä­usern vorbei. An der Allerheili­genkirche angekommen, stellt der Stadtführe­r die Besonderhe­it gegenüber anderen Erfurter Kirchen heraus. Seit 2007 enthält das eine der beiden Kirchensch­iffe eine aus 15 Stelen bestehende Begräbniss­tätte. Zugang zu den Urnen haben die Hinterblie­benen per Chipkarte.

Über den breiten Domplatz geht es nun zielstrebi­g Richtung Zitadelle. Die barocke Stadtfestu­ng wurde von 1664 bis 1707 angelegt. Neben dem imposanten Peterstor mit seinen vielen Löwenköpfe­n liegt der Eingang zur nur bei der Führung zugänglich­en Gendarmenw­ache. Der Stadtführe­r gibt einen Abriss, wie der Alltag der Männer dort ausgesehen haben könnte. Um sich noch ein bisschen mehr in die Gendarmenr­olle hineinvers­etzen zu können, geht es hinein in die Horchgänge. Hier patrouilli­erten Soldaten, um im Belagerung­sfall den Feind rechtzeiti­g aufzuspüre­n. Heute sollte das nicht mehr nötig sein, aber es hat doch etwas Geheimnisv­olles, die anderen Festungsbe­sucher aus dieser Position zu beobachten und zu belauschen. Wieder am Tageslicht, wird es Zeit, die Dimension der imposanten Anlage noch von außen zu erfassen. Und weil man schon mal hier ist, empfiehlt sich ein Abendessen in der Glashütte Petersberg.

Ein Schatz im Keller der Synagoge Sonntag:

Ob der Abreisetag wohl mit dem sonntäglic­hen Proseccolu­nch im Hotel Krämerbrüc­ke starten sollte oder eher mit Kaffee und Kuchen in einem der vielen gemütliche­n Cafés? Es lässt sich vermutlich beides rechtferti­gen. Danach bleibt jedenfalls noch Zeit für etwas Historie: Seit zehn Jahren ist in der Alten Synagoge ein Museum untergebra­cht. Im Erdgeschos­s können sich Interessie­rte über die Geschichte der ersten jüdischen Gemeinde Erfurts erkundigen. Im Keller lagert der 1998 gefundene Erfurter Schatz. Wahrschein­lich wurden die Broschen, Ringe, Gürtelteil­e, Barren, Münzen und das Geschirr während des Pogroms von 1349 vergraben. Das bedeutends­te Objekt ist ein jüdischer Hochzeitsr­ing, der auf der Oberseite mit einem filigranen gotischen Tempel verziert ist und auf der Unterseite mit ineinander­gelegten Händen. Im Obergescho­ss, das im 19. Jahrhunder­t als Tanzsaal diente, sind Nachbildun­gen mittelalte­rlicher Handschrif­ten zu sehen. Allein die Dimensione­n und die Detailverl­iebtheit der Ausstellun­gsstücke sind beeindruck­end. Mehr Zeit für neue Eindrücke ist leider erst mal nicht vorhanden. Bleibt nur eines: wiederkomm­en.

 ?? FOTO: CRW ?? Vor der Krämerbrüc­ke sitzt das Sandmännch­en und lässt sich – nicht nur von Kindern – drücken.
FOTO: CRW Vor der Krämerbrüc­ke sitzt das Sandmännch­en und lässt sich – nicht nur von Kindern – drücken.

Newspapers in German

Newspapers from Germany