Spahn plant „Faire-Kassenwahl-Gesetz“
Gesundheitsminister will mehr Möglichkeiten für gesetzlich Versicherte – AOK betroffen
BERLIN (AFP/dpa/ank) - Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will den gesetzlich Krankenversicherten größere Wahlmöglichkeiten geben. Mit dem sogenannten „Faire-Kassenwahl-Gesetz“will Spahn die meisten regionalen Kassen bundesweit öffnen, wie am Montag aus dem Gesundheitsministerium verlautete. Nur Betriebskrankenkassen mit enger Bindung an ein Unternehmen sollen verschont bleiben. Die Verpflichtung, bundesweit Versicherte aufzunehmen, würde unter anderem für die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) gelten, bei denen fast ein Drittel der Bevölkerung versichert ist. Sie sind bislang als elf jeweils regional tätige Kassen organisiert. Die großen Kassen reagierten mit Zustimmung, die AOKen ablehnend.
Ziel des Reformvorhabens ist laut Ministerium „die vollständige Wahlfreiheit für alle Mitglieder“der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). „Es ist nur schwer zu vermitteln, warum einem gesetzlich Versicherten attraktive Zusatzleistungen, bestimmte Wahltarife oder günstigere Beiträge verwehrt werden, weil er scheinbar am falschen Ort wohnt“, schrieb Spahn in einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“vom Montag.
Der Finanzausgleich zwischen den Kassen war zuletzt aus den Fugen geraten: Während einige Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds mehr Geld als zur Ausgabendeckung nötig zugewiesen bekamen und so große Rücklagen aufbauen konnten, besteht bei anderen Kassen eine chronische Finanzierungslücke. Gewinner dieser Entwicklung waren vor allem die AOKen. Die großen bundesweiten Ersatzkassen wie die Techniker Krankenkasse, die Barmer und die DAK beklagen dagegen Nachteile. Auch viele der kleineren Betriebs- und Innungskrankenkassen stehen auf der Verliererseite. Das Ministerium sprach am Montag von Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen.
Der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Christopher Hermann, hingegen befürchtet Nachteile für die Patienten. „Gesundheitliche Versorgung spielt sich regional ab“, sagte Hermann im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“und kritisierte Spahns Vorschläge als „bundesweiten Scheinwettbewerb“.
BERLIN - Jeder gesetzlich Krankenversicherte soll in Zukunft jede deutsche Kasse bundesweit frei wählen können. Damit entfiele etwa die regionale Begrenzung bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Dann könnte etwa ein Arbeitnehmer aus Baden-Württemberg in eine ostdeutsche AOK wechseln. Das sieht ein Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor.
„Faire-Kassenwahl-Gesetz“soll das Regelwerk heißen, das Spahn am Montag in Berlin vorstellte. Neben den AOKen wären demnach auch bisher nur in wenigen Bundesländern tätige Betriebskrankenkassen (BKK) und Innungskrankenkassen (IKK) betroffen. Einzige Ausnahme: Nicht geöffnete BKKen, die durch ihren starken Bezug zu einer bestimmten Firma geprägt und nur für Beschäftigte dieses Unternehmens wählbar sind. Hier ändert sich nichts.
Krankenkassen, die nach Ansicht des Ministeriums durch ihre regionale Begrenzung bisher Vorteile aus unterdurchschnittlichen Kosten vor Ort ziehen konnten und daher einen besonders günstigen Beitragssatz haben, werden für Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet wählbar. So ist die billigste deutsche Krankenkasse die AOK Sachsen-Anhalt mit einem Beitragssatz von 14,9 Prozent (deutscher Durchschnitt: 15,5 Prozent). Es folgt die BKK Euregio, bisher nur in Hamburg und Nordrhein-Westfalen vertreten (14,95). Gleichzeitig entzieht Spahn den Ländern die Aufsicht über diese Krankenkassen. Durch die bundesweite Öffnung werden auch die AOKen vom Bundesversicherungsamt kontrolliert, das einheitliche Maßstäbe durchsetzen soll. Nach Ansicht des Ministeriums ist dafür keine Zustimmung der Bundesländer notwendig. Spahn erwartet, dass es angesichts des verstärkten Wettbewerbs zu Fusionen kommen wird – und das über die bisherigen Kassenartgrenzen hinweg. Auch dafür schafft das Gesetz Voraussetzungen. Es könnte also etwa auch eine BKK mit einer AOK zusammengehen.
„Bremse“gegen Manipulationen
Verändert wird nach Spahns Willen auch der Finanzausgleich zwischen den Kassen. Dieser soll dafür sorgen, dass Kassen mit besonders kranken, besonders einkommensschwachen Mitgliedern nicht gegenüber Kassen mit besonders gesunden, besonders gut bezahlten Versicherten benachteiligt werden. Viele große Ersatzund kleine Betriebskrankenkassen fühlen sich dabei jedoch seit Jahren falsch behandelt. Als großer Nutznießer gelten bisher die AOKen. Laut Gesundheitsministerium haben bisher die Kassen etwa für ältere Versicherte mit mehreren Krankheiten zu viel und für junge Menschen mit mehreren Krankheiten zu wenig bekommen. Das wird geändert. Eingeführt wird eine Regionalkomponente, über die Benachteiligungen durch regionale Kostenunterschiede ausgeglichen werden sollen. Auch eine „Manipulationsbremse“soll es geben. Hintergrund ist, dass einige Kassen Mediziner dafür bezahlen, dass sie Diagnosen verschärfen, um ihre Einnahmen zu erhöhen. Fällt einer Kasse auf, dass eine andere Kasse Ärzte für Manipulationen bezahlt, kann sie gegen den Konkurrenten klagen. Gegeneinander vor Gericht gehen können soll man aber auch bei irreführender Werbung.
Spahn will zudem zukünftig Prävention belohnen. Das soll die Kassen dazu anhalten, ihre Versicherten zur breiten Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen anzuhalten. Außerdem plant er die Einführung eines sogenannten Risikopools – der die Kassen bei der Finanzierung besonders hoher Ausgaben für einzelne Patienten unterstützen soll. Aus dem Risikopool erhalten die Krankenkassen für jeden Versicherten 80 Prozent der Leistungsausgaben, die über 100 000 Euro pro Jahr hinausgehen.
Neue Regeln sieht das Gesetzesvorhaben auch für die Haftung der Kassen vor. Bisher müssen vor allem die Konkurrenten der gleichen Kassenart geradestehen, wenn eine von ihnen pleitegeht. Künftig soll der GKV-Spitzenverband als Dachorganisation aller 109 gesetzlichen Krankenkassen die entstehenden Kosten übernehmen und sich das Geld bei allen Krankenkassen gleichermaßen zurückholen.
Im Kabinett verabschiedet werden soll der Gesetzentwurf vor der Sommerpause, im Herbst würde also die Beratung im Parlament stattfinden. Spahn erwartet viel Widerstand gegen seine Pläne.
Bereits vor wenigen Tagen hatten die Gesundheitsminister aus vier Bundesländern, darunter BadenWürttemberg und Bayern, davor gewarnt, die bisher regional organisierten Krankenkassen der AOK-Familie für Versicherte aus ganz Deutschland zu öffnen. Dies würde „letztendlich zu erheblichen Verwerfungen innerhalb des AOK-Systems“führen. Zudem sei das ein Angriff auf den Föderalismus.
Geteiltes Echo auf die Pläne
Auch der AOK-Bundesverband zeigte sich am Montag tief enttäuscht. Vorstandschef Martin
Litsch beklagte „Zentralismus und Gleichmacherei“. Franz Knieps, Vorstand des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen, plädierte dafür, „dass der Patient entscheidet, ob er eine bundesweit oder regional agierende Kasse wählen möchte“.
Dagegen freute sich Barmer-Chef Christoph Straub, nun könnten „Beitragsgelder dort hinfließen, wo sie für die Versorgung der Patientinnen und Patienten tatsächlich benötigt werden“. Auch TK-Chef Jens Baas begrüßte ausdrücklich, dass der Minister „für Fairness im Wettbewerb der Kassen sorgen“wolle. Der Entwurf skizziere „ein sinnvolles Gesamtkonzept“.