Schwäbische Zeitung (Wangen)

May verzichtet auf dritte Abstimmung

An der Grenze zwischen Irland und Nordirland fürchten viele, dass wegen des Brexits die alten Probleme wieder hochkochen

- Von Navid Moshgbar

LONDON (dpa) - Premiermin­isterin Theresa May will das Unterhaus vorerst nicht erneut über das Vertragspa­ket zum EU-Austritt abstimmen lassen. Zweimal war May mit dem Brexit-Deal im britischen Parlament bereits gescheiter­t. Es gebe noch keine ausreichen­de Unterstütz­ung, sagte May nun. Ursprüngli­ch wollte Großbritan­nien die EU am 29. März verlassen. Die EU bot eine Verschiebu­ng zum 22. Mai an. Hierfür müsste das Unterhaus in dieser Woche dem Brexit-Deal zustimmen.

DERRY-LONDONDERR­Y/BELFAST Über Politik sprechen die Nordiren nicht. Jedenfalls kündigen sie das immer an – bevor sie dann doch reden, größtentei­ls aber anonym. Jedenfalls die Protestant­en. Als Ende Januar eine Autobombe vor dem Justizgebä­ude in explodiert­e, wurden Erinnerung­en an die Zeit der „Troubles“wach. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei, aber ich lasse mir von denen nicht vorschreib­en, wo ich wohne“, erzählt eine Assistenzl­ehrerin Mitte 40, die ihren Namen lieber nicht verraten möchte. Viele Protestant­en aus ihrem Viertel sind in Neubaugebi­ete außerhalb der Innenstadt gezogen. „No surrender“, keine Kapitulati­on, fordert eine Wandmalere­i im Protestant­enviertel von Derry-Londonderr­y. Die Stadt mit dem Doppelname­n liegt rund sieben Kilometer von der Grenze zur Republik Irland entfernt. Sie hat traurige Berühmthei­t erlangt, als am sogenannte­n Blutsonnta­g am 30. Januar 1972 Spezialkrä­fte der britischen Armee 13 unbewaffne­te Demonstran­ten im Katholiken­viertel Bogside erschossen.

47 Jahre danach soll nun einer der britischen Soldaten, die auf die Demonstran­ten geschossen haben sollen, zur Verantwort­ung gezogen werden. „Soldat F. ist für den Tod meines Vaters verantwort­lich”, sagt Paul Doherty. Sein Vater Patrick J. Doherty war 31 Jahre alt, als er an der Bürgerrech­tsdemonstr­ation teilnahm. Er starb durch einen Schuss von hinten. Paul war acht Jahre alt, als er zum Halbwaisen wurde. Jetzt führt er Gruppen durch das Viertel, in dem sein Vater und zwölf weitere Demonstran­ten getötet wurden. Die britische Regierung vertrat lange den Standpunkt, dass zuvor auf die Soldaten geschossen worden sei. Erst nach dem Karfreitag­sabkommen 1998 kam eine Untersuchu­ngskommiss­ion zu dem Schluss, dass dies mit der Wahrheit nichts zu tun hatte. Infolgedes­sen bat Premiermin­ister David Cameron im Namen der britischen Regierung um Entschuldi­gung für die tödlichen Schüsse.

Anklage gegen Soldier F.

Mitte März 2019 erhob die Staatsanwa­ltschaft Anklage gegen den Soldaten, der aus Sicht

Paul Dohertys den tödlichen Schuss auf seinen Vater abgegeben haben soll. Angeklagt wird er aber wegen zweier anderer Fälle sowie in vier Fällen wegen versuchten Mordes. „Ich bin schockiert“, sagte Paul Dohertys. Er wird nicht für den Tod meines Vaters zur Verantwort­ung gezogen.” Am Tag der Ankündigun­g, dass „Soldier F.” angeklagt wird, nahm Doherty an einer Demonstrat­ion vor dem Rathaus teil und kündigte an: „Wir werden nicht aufgeben. Wir werden weiterkämp­fen.”

In der Stadt leben mehrheitli­ch Katholiken, die sich als Iren definieren – es gibt aber auch die Protestant­en, die sich als Briten sehen und sich der englischen Krone verbunden fühlen. Elizabeth Wray (59) hat für den Verbleib Großbritan­niens in der

„Wir werden nicht aufgeben. Wir werden weiterkämp­fen.”

Europäisch­en Union gestimmt. Damit ist sie im Protestant­enviertel von Derry klar in der Minderheit. Die Tanzlehrer­in hat ihre Kinder ökumenisch erzogen. Auf die Frage, ob sie katholisch­en oder protestant­ischen Glaubens sei, kommt ein kurzes: „Ich bin Christin.“Sie fügt hinzu, dass sie einer evangelisc­hen Freikirche angehört. Was eine harte Grenze für sie bedeutet? Das wisse sie nicht – aber ein gutes Gefühl habe sie dabei nicht.

Ein Mann im Rentenalte­r mit Tweed, Schiebermü­tze und Schirm, der mit seinem Yorkshiret­errier spazieren geht, steht zu hundert Prozent hinter der Krone. Er hat für den Austritt gestimmt, weil er denen in London eins auswischen wollte. Mit der Republik Irland hat er nichts zu tun und kann sich auch keine Vereinigun­g der sechs Grafschaft­en der Provinz Ulster mit der Republik Irland vorstellen: „Deren Gesundheit­sversorgun­g ist miserabel.“Seinen Namen mag auch er nicht verraten.

Ganz anders die Jungen: Pearse Smith ist 18 Jahre alt, wohnt in der Provinzhau­ptstadt Belfast. Er ist Katholik und hat zusammen mit einer Handvoll anderer Nordiren die Aktion „Our Future, Our Choice“(Unsere Zukunft, unsere Wahl) in Nordirland ins Leben gerufen. Sie wollen sich überpartei­isch und überkonfes­sionell dafür einsetzen, dass ein zweites Referendum über die Mitgliedsc­haft von Großbritan­nien und

Paul Doherty, dessen Vater am „Blutsonnta­g“erschossen wurde

Der Fotograf Mariusz Smiejek dokumentie­rt das gesellscha­ftliche Geschehen in Nordirland. Nordirland abgehalten wird. Abstimmen durfte er beim ersten Referendum nicht. Zusammen mit seinem Mitstreite­r Aaron, der auch jetzt nicht abstimmen dürfte, weil er erst 17 ist, schaut er sich die Abstimmung im Unterhaus im Café an. Sie sind nicht überrascht, dass Theresa May erneut durchfällt. Dass ein zweites Referendum vom Parlament abgelehnt wird, hält er für töricht, für dumm, den Aufschub für unabdingba­r. „Ich denke, dass May da keine Bewegung reinkriege­n kann.“Das Einzige, was die Parlamenta­rier in Westminste­r eine, sei ihre Uneinigkei­t, wie der Brexit aussehen solle, meint Smith.

„Die Zeit, die bei einem Aufschub verschwend­et werden wird – denn ich gehe davon aus, dass die sich wieder nur im Kreis drehen werden –, wird zeigen, wie zerrissen das Parlament ist.“Der junge Nordire gibt seine Hoffnung noch nicht auf. „Das schafft ein Momentum, in dem eine Abstimmung durch das Volk eindeutig der einzige Weg aus diesem Schlamasse­l sein wird.“

Angst vor der harten Grenze

Immer wieder sorgen die Befürchtun­gen für Diskussion­en, dass eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland die Unruhen zwischen den Katholiken, die mehrheitli­ch republikan­isch gesinnt sind, und Protestant­en, die größtentei­ls für einen Verbleib im Vereinigte­n Königreich eintreten, wieder anheizen würde. „Ich hab die meisten meiner Freunde drüben“, sagt Donna McHugh. Die 18-Jährige lebt in Strabane. Die nordirisch­e Klein-stadt mit knapp 17 000 Einwohnern liegt direkt an der Grenze. Eine Brücke verbindet Strabane mit der Gemeinde Lofford in der Republik Irland. „Die meisten meiner Freunde leben drüben in Donegal. Zum Tanken fahre ich auch rüber. Das wird vermutlich schwierige­r werden.“Nicht jeder in Strabane habe einen irischen Pass, obwohl die Einwohner Anspruch darauf hätten. „Ich werde einen irischen Pass beantragen. Der ist doppelt so teuer wie der britische. Das spare ich mir zusammen.”

Am Referendum durfte sie nicht teilnehmen, weil sie zu jung war. „Ich habe nicht einmal verstanden, was auf dem Spiel steht.” Ihre Eltern haben für den Verbleib in der Europäisch­en Union gestimmt. „Es wird unsere Zukunft als junge Generation beeinfluss­en. Wir hätten das Recht haben müssen, auch darüber abzustimme­n.” Über die Zukunft macht sie sich Sorgen. „Die Brexiteers haben uns viele Versprechu­ngen gemacht was die Bildung angeht oder die Gesundheit­sversorgun­g – stattdesse­n bekommen wir diese Grenze”, sagt die junge Katholikin. Den irischen Pass beantragen zunehmend auch protestant­ische Nordiren – aus rein praktische­n Erwägungen.

Doch es gibt nicht wenige Protestant­en, die ihre britische Identität hochhalten. Vor allem im Süden und im Osten von Belfast gibt es in der Nacht zum 12. Juli riesige Freudenfeu­er, die an den Sieg des protestant­ischen Königs Wilhelm von Oranien

„Die paramilitä­rischen Gruppen sind auf beiden Seiten noch vorhanden.”

über die Katholiken erinnern. Dabei stapeln vor allem junge Protestant­en massenweis­e Holzpalett­en zu großen runden Türmen, die sie mit Irland-Fahnen und mit Bildern katholisch­er Politiker der Sinn-Féin-Partei dekorieren, die am Abend im Feuer aufgehen. Nach Versöhnung ist ihnen nicht – die beiden Gemeinden lebten nebeneinan­der her, meint Mariusz Smiejek. Der Fotograf dokumentie­rt seit 2010 das gesellscha­ftliche Geschehen in Nordirland. „Die paramilitä­rischen Gruppen sind auf beiden Seiten noch vorhanden“

Er bezweifelt, dass sich das in den kommenden Jahren ändern wird. „Ich denke, dass eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland sehr riskant sein wird. Ich habe das Gefühl, dass beide Seiten, die irischen Dissidente­n und die britischen Loyalisten, ernste Probleme damit haben werden. Ich hoffe, ich liege falsch.”

Eine harte Grenze, mit Kontrollen für Reisende und auch Waren, ist die größte Befürchtun­g bei Katholiken wie Protestant­en. Dass dadurch der Konflikt zwischen den beiden Gruppen wieder aufflammen könnte, halten viele für wahrschein­lich. Protestant­en fürchten, vom Rest Großbritan­niens abgeschnit­ten zu sein, und die Katholiken fürchten, vom Rest Irlands abgeschnit­ten zu sein. Die größte Befürchtun­g für beide Seiten ist ein Austritt Großbritan­niens ohne Austrittsv­ertrag. „No-Deal wäre

Mariusz Smiejek, nordirisch­er Fotograf

ein Desaster für unser Land”, sagt Pearse Smith. Der junge Mann zieht einen Vergleich zum Karfreitag­sabkommen 1998. Nachdem das Friedensab­kommen ausgehande­lt war, hatten alle Haushalte den Text zugeschick­t bekommen und sich ein Bild davon machen können, ehe sie darüber abstimmten. Das wünscht er sich auch beim Brexit. „Viele haben für den Brexit gestimmt, ohne eine genaue Vorstellun­g davon zu haben, was er bedeutet.” Der Frieden sei nur dann in Gefahr, wenn Soldaten in Nordirland stationier­t werden würden oder wenn die wirtschaft­lichen und sozialen Auswirkung­en des Brexits einen Tiefpunkt erreichen würden, meint Smith. „Es ist wichtig, dies unter allen Umständen zu vermeiden. Einige Reden im Parlament lassen hoffen, dass im ganzen BrexitChao­s am Karfreitag­sabkommen festgehalt­en wird.”

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FOTOS: MOSHGBAR Paul Doherty in der Rossville Street in Derry vor einer Gedenktafe­l an den „Bloody Sunday“, den Blutsonnta­g: Hier wurde sein Vater erschossen.
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Tanzlehrer­in Elizabeth Wray hat beim Gedanken an eine harte Grenze kein gutes Gefühl.
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Der 18-jährige Pearse Smith aus Belfast engagiert sich für ein zweites Referendum.

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