Europas Baustellen
Was die EU in fünf Jahren geleistet hat – und was unerledigt blieb
BRÜSSEL - Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. Fünf Jahre lang hat das von JeanClaude Juncker „Kommission der letzten Chance“getaufte Kollegium aus 28 EU-Kommissaren die europäische Politik maßgeblich geprägt. Angesichts der Dringlichkeit vieler Themen hat das EU-Parlament die meisten Projekte ohne große Debatten unterstützt. Das war effizient, ging aber zulasten der Sichtbarkeit. Womöglich werden die Wähler am 26. Mai diese reibungslos funktionierende Megakoalition aus proeuropäischen Parteien abstrafen – mit deutlich mehr Stimmen für antieuropäische Kräfte. Und das, obwohl sich die geleistete Arbeit durchaus sehen lassen kann.
Krisenmanagement in Kernbereichen der EU:
Die Finanzkrise war noch nicht ausgestanden, als die Juncker-Kommission die Arbeit aufnahm. In ihrer Amtszeit ist die Arbeitslosigkeit von 10,6 auf 6,4 Prozent gesunken. Die Löhne stiegen um 5,7 Prozent. Die Wachstumskurve stieg beständig an – doch es sind noch immer 14 Prozent der jungen Menschen erwerbslos. 2014 waren es 21,7 Prozent. Griechenland konnte in der Eurozone bleiben – gegen den Widerstand von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), was sich Juncker als persönliches Verdienst anrechnet.
Die ungelöste Flüchtlingskrise:
Ein Jahr nach seinem Amtsantritt drohte eine weitere Krise die EU auseinanderzureißen: Der Flüchtlingstreck über die Balkanroute. Ein Pakt mit der Türkei half, die Ägäis abzuriegeln. Doch auch der unbeirrte Alleingang von Ungarns Premier Viktor Orbán, der ohne Absprache mit der Kommission oder den anderen EU-Regierungen einen Zaun an der Grenze zu Serbien errichten ließ, entschärfte die Situation. Orbán widersetzte sich allen Appellen aus Brüssel, das Problem gemeinschaftlich und solidarisch zu lösen. Bis heute reißt das Thema die EU auseinander wie kein anderes. Die Reform der gemeinsamen Asylpolitik gehört zu den großen ungelösten Fragen, mit denen sich die Nachfolger weiter befassen müssen.
Ein holpriger Übergang von der analogen in die digitale Welt:
Von Fake News über das Internet der Dinge bis zur Digitalsteuer hat die digitale Revolution viele Facetten, die nur auf Gemeinschaftsebene sinnvoll geregelt werden können. Doch die EU tut sich schwer damit, auf die neuen Herausforderungen die richtigen Antworten zu finden. Sollte man Google und Co mit europäischen, vielleicht öffentlich geförderten Suchmaschinen und sozialen Netzwerken Paroli bieten? Wie kann man Hassaufrufe im Netz und Lügenkampagnen, die das Wählerverhalten beeinflussen sollen, verhindern? Darauf fehlen noch Antworten.
Punktsieg gegen Google und Co.:
Immerhin gelang es der zuständigen Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, mit den Mitteln des Wettbewerbsrechts ein paar Pflöcke einzuschlagen. Microsoft darf seine eigene Suchmaschine nicht bevorzugen. Der irische Staat muss von Apple Steuern nachfordern. Und Google darf Ergebnislisten nicht zugunsten des eigenen Shoppingportals manipulieren. Das Parlament boxte gegen große Widerstände ein digitales Urheberrecht durch. Uploadfilter aber bleiben ein Reizthema. Dank wirkmächtiger Kampagnen von Google und YouTube sehen viele Nutzer nicht das Problem, dass Autoren durch digitale Großkonzerne um ihre Einnahmen gebracht werden, sondern fürchten eine Beschränkung des freien Internets.
Die Konzentration aufs große Ganze:
Beim Amtsantritt hatte Juncker versprochen, Bürokratie abzubauen und nur noch die großen länderübergreifenden Themen auf europäischer Ebene anzupacken. 134 von der Vorgängerkommission angestoßene Gesetzesprojekte wurden zurückgezogen. 44 Vorschläge wurden aber weitergeführt, 471 neue kamen hinzu – in der Wahrnehmung vieler Bürger mischt sich Brüssel noch immer zu sehr ein. Das liegt natürlich auch daran, dass ehrgeizige Klimaziele nur erreicht werden können, wenn die Produkte im gesamten Binnenmarkt entsprechend optimiert sind. Die Kunden wollen zum Beispiel weiterhin leistungsstarke Autos – und die Industrie reagiert, indem sie die Abgasmessungen manipuliert. Daran ist nicht Brüssel schuld. Aber das Image der überbordenden Bürokratie hält sich hartnäckig.
Viel Arbeit für die Nachfolger:
Die Liste der unerledigten Aufgaben ist lang. Viel Energie floss in den vergangenen Jahren in die Brexit-Verhandlungen – und diese Baustelle ist noch lange nicht abgeschlossen. Bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik wird es wohl erst vorangehen, wenn die Briten von Bord sind. In Steuerfragen und bei der Außenpolitik müsste das Einstimmigkeitsgebot fallen, wenn es endlich Fortschritte geben soll. Hier aber haben Kommission und Parlament keinen Einfluss. Die Mitgliedsstaaten müssten es beschießen – und sie zeigen bei diesen Themen ebenso wenig Einsicht wie in der Flüchtlingspolitik.