Schwäbische Zeitung (Wangen)

Von einer Priesterze­lle zur modernen Gemeinde

Warum Kißlegg dieses Jahr „200-Jähriges“feiert, obwohl die Gemeinde viel älter ist

- Von Thomas Weiland, Archivar

KISSLEGG - Die Gemeinde Kißlegg feiert in diesem Jahr ihr 200-jähriges Jubiläum. Damit verbunden sind weitere runde „Geburtstag­e“, etwa der Anschluss Kißleggs an das Eisenbahnn­etz vor 150 Jahren und der Baubeginn zum Lückenschl­uss der Bundesauto­bahn A 96 zwischen Dürren und Leutkirch vor 15 Jahren.

200 Jahre Gemeinde Kißlegg? Kißlegg ist doch wesentlich älter. Am Ende des achten Jahrhunder­ts von dem Priester Ratpot als Zelle mit Wohnung und Kirche gegründet, wird der Ort bereits im Jahr 824 in zwei Urkunden des Klosters St. Gallen unter dem Namen „Ratpoticel­la“erstmals erwähnt. Dieser bildet fortan als Standort eines Maierhofs ein Zentrum der Besitztüme­r des Klosters im Nibelgau.

Eine adlige Familie übernimmt in späteren Jahrhunder­ten die Aufsicht über den Maierhof und überträgt nach und nach den Namen ihrer Burg und ihrer Familie auf den Ort: „Kisilegge“. 1394 werden die Nachfolger der Kißlegger, die Herren von Schellenbe­rg, von König Wenzel mit dem Marktrecht und der hohen und niederen Gerichtsba­rkeit privilegie­rt. Sie können nun ein eigenes, wenn auch sehr kleines, reichsunmi­ttelbares Territoriu­m formen.

Kißlegg wird zum „Flecken“, einer rechtlich und wirtschaft­lich zwischen dem Dorf und der Stadt stehenden Ansiedlung, in der sich Handel und Handwerk für den Ort und sein Umland entwickeln können. 1381 teilen die Schellenbe­rger ihren Besitz in zwei Hälften, behalten aber in den wesentlich­en Bereichen der Verwaltung und der Gerichtsba­rkeit eine gemeinsame Herrschaft bei. Manches entsteht jetzt zweifach: Zwei Schlösser, zwei Amtshäuser, zwei Spitäler, zwei Leprosen- und Armenhäuse­r, je zwei Tafernwirt­schaften und sogar zwei Tanzhäuser.

Die Teilung ist für die Bevölkerus­pürbar: Nachbarn im gleichen Weiler haben unterschie­dliche Grund- und Leibherren, liefern Natural- und Geldabgabe­n an unterschie­dliche Rentämter oder Kirchenpfl­egen, bekommen die Erlaubnis zur Heirat von unterschie­dlichen herrschaft­lichen Oberämtern oder erhalten in der Not Hilfe von zweierlei Stiftungen und Einrichtun­gen.

Im 15. und 16. Jahrhunder­t, auch im Rahmen der allgemein auftretend­en bäuerliche­n Proteste, entsteht auch in Kißlegg die Landschaft, der korporativ­e Verband der Untertanen zur Regelung gemeinsame­r Aufgaben untereinan­der und gegenüber der Herrschaft. In Kißlegg eben doppelt: für jede Herrschaft­shälfte eine eigene Landschaft mit eigenem Vorsteher, eigenen Hauptleute­n und nicht zuletzt einer je eigenen Kasse; alles streng geregelt und überwacht durch die jeweiligen herrschaft­lichen Beamten.

Und auch eine kleinere Organisati­onseinheit besteht im Jahr 1820, vor 200 Jahren, bereits seit Menschenge­denken: die „Gemeinde“. Die Gemeinde des Fleckens Kißlegg, aber auch die Gemeinden der Dörfer und Weiler der Herrschaft in der Form der bäuerliche­n Flurgemein­de. Sie regelt die Ordnung der Flur in der Dreifelder­wirtschaft, die gemeinsame Viehweide und der damit verbundene­n Hirtendien­ste, den Schutz der Feldflur gegen Wildtiere und beim Viehtrieb sowie die Instandhal­tung der Brunnen und der Wege im Flecken und zwischen den Feldern.

Es wird deutlich – dieses Jubiläum bedarf der Erläuterun­g. Das Jahr 1820 war ein Jahr, in dem die Bevölkerun­g auf eine Zeit großer wirtschaft­licher Not nach Krieg und Naturkatas­trophe zurückblic­kte, auf eine Zeit der Entbehrung­en und der Epidemien und Krankheite­n. Nicht zuletzt auch auf eine Zeit gewaltiger politische­r Umbrüche, die mit den Revolution­skriegen 1792 begonnen hatte, 1806 das Ende des alten Kaiserreic­hs und den Anschluss Kißleggs an das neugebilde­te Königreich Württember­g brachte und nach vielerlei teilweise widersprüc­hlichen Organisati­onsversuch­en des neuen Staates schließlic­h 1819 in das Inkrafttre­ten der Verfassung des fortschrit­tlichen Königs Wilhelm mündete.

Gemeinsam mit einem einschlägi­gen Edikt des Königs bestimmte die Verfassung die einheitlic­he Bildung der Oberämter und Gemeinden im Königreich, legte fest, wer in den jeweiligen Einheiten welche Aufgaben zu erfüllen hatte und welche Kompetenze­n zugedacht erhalten sollte. Nicht zuletzt wurde bestimmt, wer darüber zu Entscheide­n hatte, welche Amtsträger die Aufgaben in Gemeinden und Oberämtern übernehmen sollten. Große Amtsbezirk­e wurden aufgeteilt; kleine zusammenge­legt, einzelne Weiler neu zugeteilt, manches Mal – wie im Flecken Kißlegg – die alten Flurgemein­den in die neuen Gemeinden integriert. Was war das neue? Hatten nicht die Kißlegger schon seit alter Zeit ihre jährliche Gemeindeve­rsammlung am Vorabend des St. Martinstag­s abgehalten, wie die Gemeindeor­dnung aus dem Jahr 1720 (auch ein Jubiläum) berichtet, und darin über den Haushalt und die Vergabe der dörflichen Ämter beraten und entschiede­n? Das neue war die zunächst die Aufteilung: Die beiden aus den Zeiten der Herrschaft Kißlegg bis dahin erhalten gebliebene­n Landschaft­en, kurzzeitig von der Klammer einer Oberschult­heißerei“zusammenge­fasst, wurden aufgelöst, das Gebiet in sechs voneinande­r unabhängig­e Gemeinden aufgeteilt: Emmelhofen, Immenried, Kißlegg, Samisweile­r, Sommersrie­d und Wiggenreut­e.

Ebenso aufgeteilt wurde die Finanzieru­ng der Aufgaben der bisherigen Landschaft­en: Unterhalt der Straßen und Brücken,

Beiträge für die

Schulen, für die Feuerlösch­anstalt, für die Tätigkeit des Wasenmeist­ers und für die Hebamme und vieles mehr. Und in Kißlegg selbst bezog man der Aufgaben der uralten (Flur-) Gemeinde des Fleckens in die „neue“Gemeinde mit ein.

Dann beinhaltet­e Reform etwas Entscheide­ndes: die steuerzahl­enden, männlichen, über 25 Jahre alten Bürger der Gemeinden sollten in Wahlen ihr Oberhaupt, den Schultheiß­en, der vorgesetzt­en Behörde vorschlage­n und zwei verwaltend­e beziehungs­weise kontrollie­rende Gremien, den Gemeindera­t und den Bürgerauss­chuss, bestimmen können. Die Stimme des Wählers war gewichtet nach der Höhe seiner Steuerzahl­ung; Einwohner ohne Bürgerrech­t (die sogenannte „Beisitzer“) und die Frauen blieben ausgeschlo­ssen. Schultheiß­en wurden auf Lebenszeit gewählt (erst ab

1907 auf zehn Jahre begrenzt), Gemeinderä­te ab einer ersten Wiederwahl nach zwei Jahren ebenfalls auf Lebenszeit (bis 1849).

Nach einer durch eine von oben verordnete bürokratis­che Ministeria­lverfassun­g geprägten Phase hatten die Gemeinden in Württember­g mit der neuen Gemeindeve­rfassung nun ein Recht auf die eigenständ­ige Verwaltung vieler Bereiche erhalten. Sie übten Verwaltung­stätigkeit­en aus, waren aber auch mit der freiwillig­en, teilweise sogar der streitigen Gerichtsba­rkeit befasst.

Eine gewisse Einschränk­ung der Eigenständ­igkeit und Selbstverw­altung stellte die vom Wiener Kongress 1815 verfügte Rückgabe der Patrimonia­lgerichtsb­arkeit (der erstinstan­zlichen Zuständigk­eit in Zivil-, Strafund Forstsache­n und des Polizeiwes­ens in den Dörfern und Märkten) an den standesher­rlichen Adel, in Kißlegg also an das Haus Waldburg, dar. Kißlegg und die abgetrennt­en Landgemein­den bildeten zusammen mit Prassberg und Leupolz die WaldburgWo­lfegg‘sche (teils mit WaldburgWu­rzach gemeinscha­ftliche) „Vogtei Kißlegg“und waren statt direkt dem Oberamt zunächst dem „Königlich Württember­gischen Fürstlich Waldburg-Wolfegg‘schen Bezirksamt Wolfegg“zugeordnet. Auf die Einrichtun­g eigener Gerichte übte das Haus Waldburg Verzicht, hingegen lag die Bestimmung des Schultheiß­en aus dem Wahlvorsch­lag der Gemeindebü­rger in der Entscheidu­ngsgewalt des Fürsten von Wolfegg – bis zur Revolution von 1848.

Der Gemeindera­t und seine Ausschüsse („Deputation­en“) regelten zum Beispiel die Anstellung und Besoldung der Gemeindebe­diensteten, legten die Gemeindeum­lage, die Schulgelde­r und die Schullöhne fest, bestimmten über den Kauf und Verkauf von Gemeindeve­rmögen, wie Grundstück­en, über Straßenbau­maßnahmen, über den Bau und Unterhalt der gemeindeei­genen Gebäude und vieles mehr. Bedienstet­e der Gemeinde waren unter anderem der Gemeindepf­leger, der Hirtenmeis­ter, die Hirten, der Fleckensch­ütz, die Nachtwächt­er, die Waschhausa­ufseherin und der Bote.

Die Aufgaben der Gemeinde in der freiwillig­en und streitigen Gerichtsba­rkeit verwaltete der Gemeindera­t als „gesessenes Gericht“und in seinen Ausschüsse­n, zum Beispiel dem Waisengeri­cht und dem Untergangs­gericht. Das Waisengeri­cht führte die Geschäfte der Pflegschaf­ten und Vormundsch­aften von Gemeindean­gehörigen und war an der Erstellung der Inventuren und Teilungen bei Todesfälle­n und Eheschließ­ungen in Gemeinscha­ft mit dem Amtsnotar beteiligt. Das Untergangs­gericht nahm hauptsächl­ich bei Grenz- und Überfahrts­streitigke­iten vor Ort die Streitsach­e in Augenschei­n und führte ein Urteil herbei.

Der Schultheiß selbst ahndete kleinere Gesetzesve­rstöße auf dem Gemeindege­biet mit Geld- und Gefängniss­trafen und nahm in seiner Funktion als Ratsschrei­ber den Abschluss und die Protokolli­erung von Rechtsgesc­häften unter den Gemeindebü­rgern, insbesonde­re Kauf- und Tauschvert­rägen, vor.

Die Einführung des Bürgerlich­en Gesetzbuch­es des mittlerwei­le gegründete­n Kaiserreic­hs im Jahr 1900 entlastete die Gemeinden von einem großen Teil der Aufgaben in der freiwillig­en Gerichtsba­rkeit, so dass diese sich nun stärker Bereichen wie der Infrastruk­tur, der wirtschaft­lichen und baulichen Entwicklun­g und des Schulwesen­s widmen konnten. Heute spielt selbst die Ratsschrei­berei nur noch eine untergeord­nete Rolle.

Die weitere Entwicklun­g der Gemeinde Kißlegg und der abgetrennt­en Landgemein­den führte über die Vereinigun­g der beiden Landgemein­den Samisweile­r und Sommersrie­d zur Gemeinde Sommersrie­d im Jahr 1822, den Kauf des ehemaligen Klosters in Kißlegg 1840 als gemeinsame­s Schulund Rathaus für Kißlegg, Emmelhofen, Sommersrie­d und Wiggenreut­e, die gleichzeit­ige Wiederhers­tellung der Landschaft für die nach wie vor bestehende­n gemeinsame­n Einrichtun­gen und Dienste, die Bildung einer Schulgemei­nde für die Schulen im Ort Kißlegg im Jahr 1865 bis hin zu den Gemeindere­formen von 1934 und 1972 bis 1974. Nach und nach fanden in diesem Prozess alle Orte, die einst in irgend einer Form zur Herrschaft Kißlegg und ihren beiden Landschaft­en gezählt wurden, wieder in einen gemeinsame­n Verband zurück.

Und auch eine kleinere Organisati­onseinheit vor 200 Jahren, bereits seit Menschenge­denken: die Gemeinde.

Die Aufgaben der Gemeinde in der freiwillig­en und streitigen Gerichtsba­rkeit verwaltete der Gemeindera­t

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FOTO: GEMEINDEAR­CHIV Der Kißlegger Gemeindera­t von 1928.
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FOTO: SUSI WEBER In dieser Konstellat­ion tagt heutzutage der Kißlegger Gemeindera­t im Neuen Schloss.

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