Von einer Priesterzelle zur modernen Gemeinde
Warum Kißlegg dieses Jahr „200-Jähriges“feiert, obwohl die Gemeinde viel älter ist
KISSLEGG - Die Gemeinde Kißlegg feiert in diesem Jahr ihr 200-jähriges Jubiläum. Damit verbunden sind weitere runde „Geburtstage“, etwa der Anschluss Kißleggs an das Eisenbahnnetz vor 150 Jahren und der Baubeginn zum Lückenschluss der Bundesautobahn A 96 zwischen Dürren und Leutkirch vor 15 Jahren.
200 Jahre Gemeinde Kißlegg? Kißlegg ist doch wesentlich älter. Am Ende des achten Jahrhunderts von dem Priester Ratpot als Zelle mit Wohnung und Kirche gegründet, wird der Ort bereits im Jahr 824 in zwei Urkunden des Klosters St. Gallen unter dem Namen „Ratpoticella“erstmals erwähnt. Dieser bildet fortan als Standort eines Maierhofs ein Zentrum der Besitztümer des Klosters im Nibelgau.
Eine adlige Familie übernimmt in späteren Jahrhunderten die Aufsicht über den Maierhof und überträgt nach und nach den Namen ihrer Burg und ihrer Familie auf den Ort: „Kisilegge“. 1394 werden die Nachfolger der Kißlegger, die Herren von Schellenberg, von König Wenzel mit dem Marktrecht und der hohen und niederen Gerichtsbarkeit privilegiert. Sie können nun ein eigenes, wenn auch sehr kleines, reichsunmittelbares Territorium formen.
Kißlegg wird zum „Flecken“, einer rechtlich und wirtschaftlich zwischen dem Dorf und der Stadt stehenden Ansiedlung, in der sich Handel und Handwerk für den Ort und sein Umland entwickeln können. 1381 teilen die Schellenberger ihren Besitz in zwei Hälften, behalten aber in den wesentlichen Bereichen der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit eine gemeinsame Herrschaft bei. Manches entsteht jetzt zweifach: Zwei Schlösser, zwei Amtshäuser, zwei Spitäler, zwei Leprosen- und Armenhäuser, je zwei Tafernwirtschaften und sogar zwei Tanzhäuser.
Die Teilung ist für die Bevölkeruspürbar: Nachbarn im gleichen Weiler haben unterschiedliche Grund- und Leibherren, liefern Natural- und Geldabgaben an unterschiedliche Rentämter oder Kirchenpflegen, bekommen die Erlaubnis zur Heirat von unterschiedlichen herrschaftlichen Oberämtern oder erhalten in der Not Hilfe von zweierlei Stiftungen und Einrichtungen.
Im 15. und 16. Jahrhundert, auch im Rahmen der allgemein auftretenden bäuerlichen Proteste, entsteht auch in Kißlegg die Landschaft, der korporative Verband der Untertanen zur Regelung gemeinsamer Aufgaben untereinander und gegenüber der Herrschaft. In Kißlegg eben doppelt: für jede Herrschaftshälfte eine eigene Landschaft mit eigenem Vorsteher, eigenen Hauptleuten und nicht zuletzt einer je eigenen Kasse; alles streng geregelt und überwacht durch die jeweiligen herrschaftlichen Beamten.
Und auch eine kleinere Organisationseinheit besteht im Jahr 1820, vor 200 Jahren, bereits seit Menschengedenken: die „Gemeinde“. Die Gemeinde des Fleckens Kißlegg, aber auch die Gemeinden der Dörfer und Weiler der Herrschaft in der Form der bäuerlichen Flurgemeinde. Sie regelt die Ordnung der Flur in der Dreifelderwirtschaft, die gemeinsame Viehweide und der damit verbundenen Hirtendienste, den Schutz der Feldflur gegen Wildtiere und beim Viehtrieb sowie die Instandhaltung der Brunnen und der Wege im Flecken und zwischen den Feldern.
Es wird deutlich – dieses Jubiläum bedarf der Erläuterung. Das Jahr 1820 war ein Jahr, in dem die Bevölkerung auf eine Zeit großer wirtschaftlicher Not nach Krieg und Naturkatastrophe zurückblickte, auf eine Zeit der Entbehrungen und der Epidemien und Krankheiten. Nicht zuletzt auch auf eine Zeit gewaltiger politischer Umbrüche, die mit den Revolutionskriegen 1792 begonnen hatte, 1806 das Ende des alten Kaiserreichs und den Anschluss Kißleggs an das neugebildete Königreich Württemberg brachte und nach vielerlei teilweise widersprüchlichen Organisationsversuchen des neuen Staates schließlich 1819 in das Inkrafttreten der Verfassung des fortschrittlichen Königs Wilhelm mündete.
Gemeinsam mit einem einschlägigen Edikt des Königs bestimmte die Verfassung die einheitliche Bildung der Oberämter und Gemeinden im Königreich, legte fest, wer in den jeweiligen Einheiten welche Aufgaben zu erfüllen hatte und welche Kompetenzen zugedacht erhalten sollte. Nicht zuletzt wurde bestimmt, wer darüber zu Entscheiden hatte, welche Amtsträger die Aufgaben in Gemeinden und Oberämtern übernehmen sollten. Große Amtsbezirke wurden aufgeteilt; kleine zusammengelegt, einzelne Weiler neu zugeteilt, manches Mal – wie im Flecken Kißlegg – die alten Flurgemeinden in die neuen Gemeinden integriert. Was war das neue? Hatten nicht die Kißlegger schon seit alter Zeit ihre jährliche Gemeindeversammlung am Vorabend des St. Martinstags abgehalten, wie die Gemeindeordnung aus dem Jahr 1720 (auch ein Jubiläum) berichtet, und darin über den Haushalt und die Vergabe der dörflichen Ämter beraten und entschieden? Das neue war die zunächst die Aufteilung: Die beiden aus den Zeiten der Herrschaft Kißlegg bis dahin erhalten gebliebenen Landschaften, kurzzeitig von der Klammer einer Oberschultheißerei“zusammengefasst, wurden aufgelöst, das Gebiet in sechs voneinander unabhängige Gemeinden aufgeteilt: Emmelhofen, Immenried, Kißlegg, Samisweiler, Sommersried und Wiggenreute.
Ebenso aufgeteilt wurde die Finanzierung der Aufgaben der bisherigen Landschaften: Unterhalt der Straßen und Brücken,
Beiträge für die
Schulen, für die Feuerlöschanstalt, für die Tätigkeit des Wasenmeisters und für die Hebamme und vieles mehr. Und in Kißlegg selbst bezog man der Aufgaben der uralten (Flur-) Gemeinde des Fleckens in die „neue“Gemeinde mit ein.
Dann beinhaltete Reform etwas Entscheidendes: die steuerzahlenden, männlichen, über 25 Jahre alten Bürger der Gemeinden sollten in Wahlen ihr Oberhaupt, den Schultheißen, der vorgesetzten Behörde vorschlagen und zwei verwaltende beziehungsweise kontrollierende Gremien, den Gemeinderat und den Bürgerausschuss, bestimmen können. Die Stimme des Wählers war gewichtet nach der Höhe seiner Steuerzahlung; Einwohner ohne Bürgerrecht (die sogenannte „Beisitzer“) und die Frauen blieben ausgeschlossen. Schultheißen wurden auf Lebenszeit gewählt (erst ab
1907 auf zehn Jahre begrenzt), Gemeinderäte ab einer ersten Wiederwahl nach zwei Jahren ebenfalls auf Lebenszeit (bis 1849).
Nach einer durch eine von oben verordnete bürokratische Ministerialverfassung geprägten Phase hatten die Gemeinden in Württemberg mit der neuen Gemeindeverfassung nun ein Recht auf die eigenständige Verwaltung vieler Bereiche erhalten. Sie übten Verwaltungstätigkeiten aus, waren aber auch mit der freiwilligen, teilweise sogar der streitigen Gerichtsbarkeit befasst.
Eine gewisse Einschränkung der Eigenständigkeit und Selbstverwaltung stellte die vom Wiener Kongress 1815 verfügte Rückgabe der Patrimonialgerichtsbarkeit (der erstinstanzlichen Zuständigkeit in Zivil-, Strafund Forstsachen und des Polizeiwesens in den Dörfern und Märkten) an den standesherrlichen Adel, in Kißlegg also an das Haus Waldburg, dar. Kißlegg und die abgetrennten Landgemeinden bildeten zusammen mit Prassberg und Leupolz die WaldburgWolfegg‘sche (teils mit WaldburgWurzach gemeinschaftliche) „Vogtei Kißlegg“und waren statt direkt dem Oberamt zunächst dem „Königlich Württembergischen Fürstlich Waldburg-Wolfegg‘schen Bezirksamt Wolfegg“zugeordnet. Auf die Einrichtung eigener Gerichte übte das Haus Waldburg Verzicht, hingegen lag die Bestimmung des Schultheißen aus dem Wahlvorschlag der Gemeindebürger in der Entscheidungsgewalt des Fürsten von Wolfegg – bis zur Revolution von 1848.
Der Gemeinderat und seine Ausschüsse („Deputationen“) regelten zum Beispiel die Anstellung und Besoldung der Gemeindebediensteten, legten die Gemeindeumlage, die Schulgelder und die Schullöhne fest, bestimmten über den Kauf und Verkauf von Gemeindevermögen, wie Grundstücken, über Straßenbaumaßnahmen, über den Bau und Unterhalt der gemeindeeigenen Gebäude und vieles mehr. Bedienstete der Gemeinde waren unter anderem der Gemeindepfleger, der Hirtenmeister, die Hirten, der Fleckenschütz, die Nachtwächter, die Waschhausaufseherin und der Bote.
Die Aufgaben der Gemeinde in der freiwilligen und streitigen Gerichtsbarkeit verwaltete der Gemeinderat als „gesessenes Gericht“und in seinen Ausschüssen, zum Beispiel dem Waisengericht und dem Untergangsgericht. Das Waisengericht führte die Geschäfte der Pflegschaften und Vormundschaften von Gemeindeangehörigen und war an der Erstellung der Inventuren und Teilungen bei Todesfällen und Eheschließungen in Gemeinschaft mit dem Amtsnotar beteiligt. Das Untergangsgericht nahm hauptsächlich bei Grenz- und Überfahrtsstreitigkeiten vor Ort die Streitsache in Augenschein und führte ein Urteil herbei.
Der Schultheiß selbst ahndete kleinere Gesetzesverstöße auf dem Gemeindegebiet mit Geld- und Gefängnisstrafen und nahm in seiner Funktion als Ratsschreiber den Abschluss und die Protokollierung von Rechtsgeschäften unter den Gemeindebürgern, insbesondere Kauf- und Tauschverträgen, vor.
Die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches des mittlerweile gegründeten Kaiserreichs im Jahr 1900 entlastete die Gemeinden von einem großen Teil der Aufgaben in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, so dass diese sich nun stärker Bereichen wie der Infrastruktur, der wirtschaftlichen und baulichen Entwicklung und des Schulwesens widmen konnten. Heute spielt selbst die Ratsschreiberei nur noch eine untergeordnete Rolle.
Die weitere Entwicklung der Gemeinde Kißlegg und der abgetrennten Landgemeinden führte über die Vereinigung der beiden Landgemeinden Samisweiler und Sommersried zur Gemeinde Sommersried im Jahr 1822, den Kauf des ehemaligen Klosters in Kißlegg 1840 als gemeinsames Schulund Rathaus für Kißlegg, Emmelhofen, Sommersried und Wiggenreute, die gleichzeitige Wiederherstellung der Landschaft für die nach wie vor bestehenden gemeinsamen Einrichtungen und Dienste, die Bildung einer Schulgemeinde für die Schulen im Ort Kißlegg im Jahr 1865 bis hin zu den Gemeindereformen von 1934 und 1972 bis 1974. Nach und nach fanden in diesem Prozess alle Orte, die einst in irgend einer Form zur Herrschaft Kißlegg und ihren beiden Landschaften gezählt wurden, wieder in einen gemeinsamen Verband zurück.
Und auch eine kleinere Organisationseinheit vor 200 Jahren, bereits seit Menschengedenken: die Gemeinde.
Die Aufgaben der Gemeinde in der freiwilligen und streitigen Gerichtsbarkeit verwaltete der Gemeinderat