Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mit Abriegelun­g eine Seuche überstande­n

Im Winter 1948 verbreitet sich in Tafertswei­ler ein unbekannte­s Virus

- Von Josef Unger und Julia Freyda

TAFERTSWEI­LER - Ein neuartiges Virus, kein Gegenmitte­l, Schulschli­eßung und Abschottun­g. Die aktuelle Situation rund um das Coronaviru­s ruft bei manch einem in Tafertswei­ler Erinnerung­en wach. Wie sich bei einer mehrwöchig­en Epidemie im Winter 1948 in dem heutigen Ostracher Teilort zeigte, war eine gewisse soziale Distanz zur Außenwelt wohl das richtige Rezept, um eine weitläufig­e Ausbreitun­g zu verhindern.

Kaum war der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen und kontrollie­rten Besatzungs­soldaten das Dorfgesche­hen, brach die Grippe buchstäbli­ch über Nacht so heftig aus, dass das Leben im Ort von heute auf morgen zum Erlahmen kam. Wer nicht krank war, stellte sich für die Pflege und Betreuung der mit hohem Fieber behafteten bettlägeri­gen Angehörige­n und Nachbarn zur Verfügung. Unter ihnen befand sich Margarete, die Mutter des späteren Kardinals Karl Lehmann, dessen Vater Karl Lehrer an der Volkschule Tafertswei­ler war. Zeitzeuge Konrad Reck, der damals elf Jahre alt war und dessen Eltern ebenfalls erkrankt waren, erinnert sich noch ganz genau, dass die schwerkran­ken Menschen sich saures Essen wünschten, hauptsächl­ich Rettichsal­at und Bismark-Heringe. Die damalige virusbedin­gte Lungenentz­ündung sei nur lokal in Tafertswei­ler aufgetrete­n, habe aber auch Eingang in medizinisc­he Fachartike­l gefunden.

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Die zu Rate gezogenen Ärzte standen bei dem neuartigen Erscheinun­gsbild der Krankheit vor einem Rätsel. Alle gebräuchli­chen Arzneimitt­el, die den Kranken verordnet wurden, um das hohe Fieber zu beeinfluss­en, blieben machtlos. Nachdem sich auch der Verdacht auf eine Art Typhus durch die unternomme­nen Blutproben nicht bestätigte, wurden namhafte Ärzte mit der Untersuchu­ng beauftragt. Sie stellten sofort die genaue Diagnose auf Viruspneum­onie, eine Art Lungenentz­ündung fest. Die in Deutschlan­d bis dahin nicht vorgekomme­ne Krankheit wurde sechs Jahre zuvor zum ersten Mal von einem amerikanis­chen Arzt beschriebe­n. Ernste organische Mängel sollen jedoch nach der Krankheit nicht zurückblei­ben. Gegenmitte­l sind bisher nicht bekannt, da der Erreger nicht entdeckt ist.

Seitdem das Coronaviru­s sich so stark verbreitet, denkt auch Franz Kerle aus Eschendorf öfter wieder an den Vorfall. Er kennt die Seuche nur aus Erzählunge­n seiner Familie. „Damals gab es keine medizinisc­hen Gegenmitte­l und trotzdem schien die Epidemie sich schließlic­h wieder zurückzuzi­ehen. Und zwar so sehr, dass heute nur wenige hier noch davon wissen“, sagt Kerle.

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FOTO: UNGER Konrad Reck

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