Russlands Regierende mobilisieren gegen das Virus
Lange hat Präsident Putin die Epidemie heruntergespielt – Jetzt ist die Rede von strenger Überwachung
MOSKAU - Manchem scheine vielleicht, es handle sich um ein Spiel, um einen Hollywoodfilm. „Aber das ist ganz und gar kein Spiel“, erklärte Dmitri Medwedew. „Das ist eine reale Bedrohung für die gesamte menschliche Zivilisation.“Medwedew, Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Ex-Premierminister und zurzeit stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, wandte sich per Internet an die russische Nation. Mit eher düsteren Worten: „Die Lage ist äußerst ernst.“
Am Sonntag hatten die Behörden der Stadt Moskau und der umliegenden Moskauer Region für alle Bürger eine Quarantäne ausgerufen, die fast einer Ausgangssperre gleichkommt. Die Menschen dürfen ihre Wohnungen nur noch verlassen, um zur Arbeit oder zum Notarzt zu fahren, Lebensmittel oder Arzneien einzukaufen. Die Moskauer Einschränkungen sind sogar rigoroser als im Pandemie-Brennpunkt Italien: Es ist kein Jogging gestattet, Hunde darf man nur im Umkreis von hundert Metern des eigenen Wohnhauses ausführen. Ein anonymer Stadtbeamter erklärte gegenüber dem britischen Sendernetzwerk BBC, im Rathaus habe man sich zuvor über TV-Bilder empört, die zeigten, wie Moskauer sich am Wochenende beim Schaschlikgrillen amüsierten.
Präsident Wladimir Putin äußerte sich am Montag gelassener: „Es darf keine Selbstzufriedenheit geben, wir brauchen ruhige, zuversichtliche und verlässliche Arbeit, die das Vertrauen der Bürger stärkt.“Noch am Mittwoch hatte Putin der TV-Nation versichert, aufgrund frühzeitiger Maßnahmen sei es im
Ganzen gelungen, eine rasche Verbreitung der Krankheit zu vermeiden.
Nach offiziellen Angaben sind in der 12,5 Millionen-Stadt Moskau nur 1226 Menschen infiziert, in ganz Russland 1836, bis gestern gab es zehn Todesopfer. Allerdings glauben viele Russen, angesichts geringer Testkapazitäten seien diese Angaben viel zu niedrig. „Die Behörden ergreifen diese harten Maßnahmen offenbar, weil ihnen inzwischen selbst klar ist, dass das Unglück in Wirklichkeit viel größer ist als ihre eigenen Zahlen“, sagt Ilja Jaschin, ein oppositioneller Moskauer Politiker, der „Schwäbischen Zeitung“.
Auch kremlnahe Parlamentarier verwiesen am Montag darauf, dass die erlassenen Freiheitseinschränkungen laut Verfassung nur vom Präsidenten oder vom Parlament beschlossen werden dürfen. Putin aber erklärte, diese Maßnahmen seien für den Großraum Moskau mit seinen vielen Millionen Einwohnern „gerechtfertigt und unumgänglich“. Und Regierungschef Michail Mischustin rief die Gebietsgouverneure auf, dem Moskauer Beispiel zu folgen. Kaliningrad, Murmansk und Jakutien
verkündeten im Laufe des Tages ebensolche harte Quarantänen.
In anderen russischen Regionen ging man gestern noch sehr unterschiedlich mit der Epidemie um. Obwohl Putin eine arbeitsfreie Woche verkündet hatte, fotografierte ein Angestellter im mittelsibirischen Kemerowo aus seinem Büro einen mit den Pkws seiner Kollegen voll gestellten Parkplatz. Im benachbarten Krasnojarsker Gebiet schränkte ein Bezirksverwaltungschef den Alkoholverkauf auf sieben Stunden am Tag ein. Der Irkutsker Gouverneur verdoppelte die Gehälter des medizinischen Personals, das mit der Epidemie befasst ist. Obwohl in der Baikalregion gestern nur ein Infizierter bekannt war.
Nun wird spekuliert, ob die strenge Moskauer Quarantäne drei bis vier Wochen dauern soll – mit dem Ziel, das Virus vor dem 9. Mai ganz oder zumindest weitgehend zu beseitigen. Der 75. Jahrestag des Kriegsendes wird seit Monaten mit großem Aufwand vorbereitet. Und zahlreiche Moskauer Beobachter halten die praktische Ausgangssperre für unverhältnismäßig. „Wie vielen Eingesperrten wird das bewegungsarme Herumsitzen die Gesundheit ruinieren?“, fragt der Publizist Alexander Baunow auf Facebook.
Trotz der Verbote herrschte am Montag auf Moskaus Straßen noch immer reger Autoverkehr, in Parks waren auch Spaziergänger zu beobachten. Bürgermeister Sergei Sobjanin aber kündigte eine totale digitale Erfassung der Hauptstadtbevölkerung und ihrer Wege an. „Ich hoffe, wir besitzen am Ende der Woche Informationssysteme, die es uns erlauben, die Bewegungen der Bürger vollständig zu kontrollieren“, zitiert ihn die Zeitung „Iswestija“.
Der Oppositionelle Jaschin befürchtet, dass die Staatsmacht solche neue Überwachungstechnologien nach dem Ende der Pandemie nicht oder nur teilweise ausschalten wird. „In autoritären Regimen werden Freiheitsrechte mit Leichtigkeit kassiert, sie später zurückzubekommen ist viel schwieriger.“Jetzt dienten diese Technologien vielleicht wirklich, um die Bewegungen möglicher Virus-Verbreiter zu verfolgen. „Aber wo ist die Garantie, dass sie später nicht eingesetzt werden, um Andersdenkende und ihre Aktivitäten zu überwachen?“