„Auch Kinder können im Einzelfall schwer erkranken“
RAVENSBURG - Derzeit wird von immer mehr jungen Menschen berichtet, die an den Folgen des Coronavirus versterben. Darüber spricht Virologe Professor Thomas Mertens mit Daniel Hadrys.
Stimmt es, dass mittlerweile auch mehr gesunde Kinder und Jugendliche am Coronavirus versterben – oder haben diese nichts von etwaigen Vorerkrankungen gewusst?
Aus allen vorliegenden Studien kann man erkennen, dass Kinder eher leichte Covid-19-Erkrankungen durchmachen, aber auch Kinder und Neugeborene können im Einzelfall auch schwer erkranken und extrem selten auch versterben. In einer Studie mit 171 Sars-CoV-2-infizierten Kindern (Durchschnittsalter 6,7 Jahre) hatten zwölf eine Lungenentzündung und bei allen drei Kindern, die dann beatmet werden mussten, bestanden Vorerkrankungen. Unerkannte Vorerkrankungen mögen vorkommen, aber ich kenne dazu keine publizierten Daten. Wenn weltweit immer mehr Kinder infiziert werden, wird es natürlich auch absolut mehr erkrankte Kinder geben, auch zuvor gesunde, ohne dass dies den Prozentsatz verändern muss. Die Abhängigkeit der Schwere einer Erkrankung vom Alter ist lange bekannt. Bereits bei der Kinderlähmung war es so, dass kleine Kinder viel seltener an Lähmungen erkrankten als ältere.
Welche Faktoren beeinflussen – über Lebensstil oder Vorerkrankungen hinaus – den Verlauf ?
Bei den beiden ersten neuen Coronaviren (Sars-CoV und Mers-CoV) hat man herausgefunden, dass es auch verschiedene genetische Faktoren beim Menschen gibt, die entweder die „Empfindlichkeit“für eine solche Infektion steigerten oder herabsetzten. Diese „genetische Veranlagung“wurde vor allem vermittelt über Veränderungen an Zell-Rezeptoren, die für die Immunabwehr wichtig sind. Ob dies auch für Sars-CoV-2 gilt, ist derzeit noch nicht bekannt, aber man kann dies vermuten und man wird es erforschen.
Warum sind einige Vorerkrankungen wie Diabetes so gefährlich?
Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Auch bei der Zusammenfassung mehrerer Studien (Metaanalyse) wurden Risikofaktoren identifiziert, wie Alter, Bluthochdruck, chronische Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und noch weitere. Die tatsächliche Bedeutung einzelner Faktoren ist derzeit noch unbekannt und auch ein möglicher direkter Zusammenhang mit dem Covid-19-Krankheitsgeschehen. Bevor man hier Vermutungen anstellt, muss man erst genau verstanden haben, was der Erkrankung Covid-19 im Organismus und den beteiligten Zellen zugrunde liegt. Wir wissen, dass neben der Infektion des Lungengewebes (zwischen den Lungenbläschen) und auch zum Beispiel der Herzmuskelzellen (die auch den Eintrittsrezeptor für das Virus besitzen) Immunreaktionen des Organismus sehr wahrscheinlich eine enorme Rolle spielen. Die Sars-CoV-2-Infektion setzt im Organismus einen wahren „Sturm“von Botenstoffen aus Zellen frei, der vom Organismus „gut gemeint“ist, aber nicht kontrolliert werden kann. Diesen extremen Stress und die erforderlichen medizinischen Maßnahmen kann ein ansonsten gesunder Organismus besser überstehen als ein bereits vorgeschädigter. Ich sehe derzeit Diabetes (mit seinen Folgeveränderungen) und die anderen Vorerkrankungen zunächst als Ausdruck eines weniger belastbaren Patienten. Es kann sein, dass sich direkte Zusammenhänge einzelner Vorerkrankungen mit Covid-19 später noch herausstellen.