Narrenfreiheit für Orban
EU geht nicht gegen Gesetz von Ungarns Premier vor
BRÜSSEL - Den dänischen Parteifreunden platzte am Mittwoch die Hutschnur. In einem Brief forderten sie Donald Tusk, den Präsidenten der Europäischen Volkspartei (EVP) auf, Schritte gegen die ungarische Mitgliedspartei Fidesz einzuleiten. „Viel zu lang haben wir dem demokratischen Niedergang in Budapest zugeschaut“, schrieb die dänische EU-Abgeordnete Pernille Weiss auf Twitter. Sie reagierte damit auf eine Sitzung des ungarischen Parlaments vom Montag, wo die Abgeordneten mit überwältigender
Mehrheit einem Ermächtigungsgesetz zustimmten, das der Regierung fast unbeschränkte Macht überträgt.
Zwar liegt die Mitgliedschaft von Victor Orbans Fidesz bereits seit einem Jahr auf Eis. Die ungarischen Delegierten sind nicht mehr stimmberechtigt in Sitzungen der EVP. Auch forderten viele Konservative und der Fraktionsvorsitzende Manfred Weber die EU-Kommission mehrfach auf, das Rechtsstaatsverfahren (Artikel-7Verfahren) gegen Ungarn voranzutreiben. Bislang aber scheute die Partei den Bruch mit ihrem Mitglied. Und das, obwohl Orban im Geschacher um die Neubesetzung der Kommissionsspitze nicht den EVP-Kandidaten Manfred Weber, sondern Ursula von der Leyen unterstützt hatte.
Entsprechend gespannt war in Brüssel beobachtet worden, wie von der Leyen die jüngsten Entwicklungen in Ungarn bewerten würde – zum Beispiel die Selbstentmachtung des dortigen Parlaments und die Androhung drakonischer Strafen für Journalisten, die die Bekämpfung der Corona-Krise durch die Regierung kritisch kommentieren. EU-Parlamentspräsident David Sassoli hatte die Kommission gleich am Montag gebeten, die neuen Gesetze zu überprüfen. „Alle Mitgliedsstaaten haben die Pflicht, ihre Grundwerte zu wahren und zu schützen. Niemand darf diese Pandemie
dazu benutzen, unsere Freiheiten zu untergraben“, sagte er.
Ihr für Fragen der Rechtsstaatlichkeit zuständiger Kommissar Didier Reynders hatte Ungarn am selben Tag aufgefordert, sich an die Regeln zu halten. Am Dienstag veröffentlichte die Kommissionspräsidentin eine Mitteilung, die in die gleiche Richtung zielt, sich dabei aber nur allgemein auf die von einzelnen Regierungen getroffenen Sondermaßnahmen bezieht und Ungarn nicht erwähnt.
„Es ist von größter Wichtigkeit, dass Notmaßnahmen nicht auf Kosten unserer Grundprinzipien und fundamentalen Werte gehen, wie sie in den Verträgen festgehalten sind. Demokratie kann ohne unabhängige Medien nicht funktionieren. Respekt für Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit sind wesentlich in diesen unsicheren Zeiten“, so die Kommissionspräsidentin. Nur so könne Desinformation bekämpft und Bürgern Zugang zu für sie lebenswichtigen Fakten ermöglicht werden.
Die ungarische Regierung stellte klar, dass sie sich von dieser Mahnung nicht angesprochen fühlt. „Wir sehen das genauso. Deshalb sind die Notfallmaßnahmen des ungarischen Staates in Einklang mit den EU-Verträgen und der ungarischen Verfassung und nur darauf ausgerichtet, das Coronavirus zu bekämpfen“, twitterte Orbans Sprecher Zoltan Kovacs.
Von der Leyens Sprecher präzisierte, man werde die ungarischen Gesetze genau unter die Lupe nehmen, sobald sie verabschiedet seien. Solange die EU-Gremien mit den Folgen des Corona-Ausbruchs beschäftigt sind, kann die ungarische Regierung sich zurücklehnen. Sowohl die EU-Kommission als auch die Regierungen haben derzeit andere Sorgen. Außerdem kann das Artikel-7-Verfahren erst vorangetrieben werden, wenn die zuständigen Minister sich wieder in einem Raum versammeln und Beschlüsse fassen können. Bis dahin hat Victor Orban Narrenfreiheit.