„Unsere Tochter versteht das alles nicht“
Corona schneidet auch Behinderte von Familien ab – Eltern und Kind leiden unter Besuchsverbot
LINDAU - Der Lifter in ihrer Wohnung bleibt vorerst unbenutzt. Denn das Ehepaar Nagel kann seine Tochter derzeit weder besuchen noch, wie sonst immer, am Wochenende nach Hause holen. Weil Corona-bedingt auch für Wohnheime und Einrichtungen der Behindertenhilfe ein absolutes Besuchsverbot gilt. „Doch darüber berichten die Medien nicht“, entrüstet sich die Mutter. Immer werde nur auf Sorgen und Folgen für ältere Menschen eingegangen. „Was ist aber mit den behinderten Menschen, die das im Moment überhaupt nicht verstehen?“
Ursula Nagel kämpft mit den Tränen. Ihre Tochter hat eine Mehrfachbehinderung, lebt in einer Einrichtung im Großraum Augsburg. Zwar ist ihre Kathrin schon Anfang 40, aber für ihre Eltern eben immer noch „unser Kind“, das der Vater an jedem Freitag im Jahr übers Wochenende nach Hause nach Lindau holt. Dafür hat die Familie extra ein spezielles Fahrzeug gekauft, in das Kathrin in ihrem Rollstuhl hineingefahren werden kann.
Doch nun gilt in Bayern ein Besuchsverbot für Kliniken, Heime und ähnliche Einrichtungen. Was Ursula Nagel dabei stört: „Überall wird nur über die Senioren gesprochen, wie schlimm die Corona-Einschränkungen für die Älteren sind.“Dass die Coronakrise aber auch drastische Auswirkungen auf Menschen mit Behinderung habe, darüber verliere kaum jemand ein Wort oder eine Zeile. Dabei sind diese nach Nagels Ansicht besonders betroffen, weil für sie Routine im täglichen Alltag besonders wichtig sei – doch die werde derzeit durch die Corona-Pandemie durcheinandergewirbelt. Mit Worten erklären könne man das den meisten Kindern und Erwachsenen mit Behinderung aber nicht, gibt Nagel zu bedenken: Warum sie ihre Familie nicht sehen dürfen, welche Gefahr vom Coronavirus ausgeht – „das versteht Kathrin doch überhaupt nicht“. Ihre Tochter sei eine fröhliche Frau, liebe beispielsweise Musik. Doch durch ihre Mehrfachbehinderung
sei sie zu keiner Kommunikation fähig, habe deshalb auch nie Freundschaften schließen können.
Ganz kurz habe die Einrichtung ihnen angeboten, Kathrin ganz nach Lindau zu holen. „Aber wir sind beide über 70“, gibt Ursula Nagel zu bedenken. Ihre Tochter sieben Tage die Woche rund um die Uhr zu betreuen, dazu sieht sie sich körperlich nicht in der Lage.
Immerhin hätten die Mitarbeiter der Einrichtung versprochen, ihnen Fotos oder sogar ein kleines Video von Kathrin zu schicken. Darauf wartet Ursula Nagel jetzt sehnsüchtig. Jeden Tag hofft sie auf ein aktuelles Bild ihrer Tochter, bisher ist keines angekommen.
Noch einmal meldet sich der Verstand: „Inzwischen mache ich mir Gedanken, ob diese Trennung von unserer Tochter irgendwie vielleicht auch eine positive Seite haben kann.“Weil Kathrin dann vielleicht langsam spüre, dass sie auch ohne ihre Eltern „ganz gut leben kann“.
„Ja, die Vernunft weiß, dass unser Kind dort gut versorgt wird“, sagt die Mutter. Aber man könne momentan überhaupt nicht absehen, wie lange die Coronakrise dauern werde – „vielleicht sehen wir sie wochenoder monatelang nicht mehr“. Bei diesem Satz kämpft Ursula Nagel wieder hörbar mit den Tränen.