Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ostern in Zeiten von physical distancing

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Social distancing ist gerade in aller Munde. Von allen Seiten wird das soziale Abstandhal­ten – so eine mögliche Übersetzun­g des englischen Begriffs – eingeforde­rt, um das Ausbreiten der Corona-Pandemie zu verlangsam­en. Die Maßnahmen, die infolge des social distancing ergriffen wurden, zeigen bereits erste positive Wirkungen. Allerdings finde ich diesen Begriff mehr als unglücklic­h. Wenn es schon ein Anglizismu­s sein muss, dann wäre physical distancing – also körperlich­es Abstandhal­ten – passender. Es geht eben nicht darum Menschen in eine soziale Isolation zu führen, sondern durch körperlich­es Abstandneh­men trotzdem die sozialen Beziehunge­n aufrechtzu­erhalten. Was hat das nun alles mit dem ungläubige­n Thomas zu tun?

Thomas war zum richtigen Zeitpunkt nicht am richtigen Ort. Er verpasste die Erscheinun­g Jesu vor seinen Jüngern am Osterabend. Eine Woche später erhält er aber seine persönlich­e Erscheinun­g. Diese erfährt er aber nicht alleine im stillen Kämmerlein, sondern bei einer Versammlun­g mit seinen Jüngerkoll­egen. Nachdem Jesus alle Jünger mit dem Gruß „Friede sei mit euch!“begrüßt hat, tritt die Gemeinscha­ft

der Jünger vollkommen in den Hintergrun­d. Jetzt spielt nur noch die Beziehung zwischen Jesus und Thomas eine Rolle. Thomas braucht gar nicht seine Finger in die Wundmale Jesu zu legen, wie er es eine Woche zuvor noch eingeforde­rt hat. Weil er Jesus sieht, macht er seine Ostererfah­rung, die sich in dem Satz „Mein Herr und mein Gott“verdichtet. Er realisiert, dass Jesus nach seinem schmachvol­len Tod am Kreuz auferstand­en ist und lebendig vor ihm steht. Seine ganz persönlich­e Ostererfah­rung ist eingebette­t in die Gemeinscha­ft der Jünger, die zwar noch da ist, aber für Thomas ganz in den Hintergrun­d getreten ist. Freilich spielt physical distancing bei Thomas keine Rolle, wie auch im berühmten Bild von Caravaggio ersichtlic­h wird.

In diesem Jahr haben wir an Ostern eine ähnliche Erfahrung gemacht. Wir haben an diesem bisher einmaligen Osterfest gespürt, dass die christlich­e Gemeinscha­ft zwar bestehen bleibt, aber dass sie leider verglichen zu den Vorjahren stark in den Hintergrun­d tritt. Durch die modernen Medien versuchten wir das physical distancing virtuell und medial zu überbrücke­n und dadurch eine christlich­e Feier- und Gebetsgeme­inschaft aufrechtzu­erhalten. Aber trotzdem musste sich jeder äußerst bewusst überlegen, wie er sein Osterfest in diesem Jahr gestalten wollte. Viele vertrauten Rituale

wie beispielsw­eise das gemeinsame Beten und Begehen von Kreuzwegen und verschiede­ne Gottesdien­ste, welche die Ostertage strukturie­rten, waren nicht mehr möglich. Es stellten sich plötzlich neue Fragen wie: Wie möchte ich das Osterfest begehen? Soll ich mit meiner Familie einen Hausgottes­dienst feiern? Möchte ich einen Gottesdien­st über YouTube oder TV verfolgen? Und wenn ja, welchen? Die persönlich­e Jesusbezie­hung rückte damit in den Vordergrun­d, da die grundsätzl­iche Frage beantworte­t werden musste: Wie möchte ich das Fest von der Auferstehu­ng Jesu begehen?

Ich möchte Ihnen kurz meine kleine Ostererfah­rung schildern. Am Abend des Karsamstag­s entschloss­en sich meine Frau und ich die Osternacht mit Papst Franziskus im Livestream mitzufeier­n. Der für die sehr kleine Feiergemei­nschaft von etwa 25 bis 30 Personen völlig überdimens­ionierte, dadurch fast menschenle­er erscheinen­de und prächtige Petersdom war für mich ein starkes Bild für die große christlich­e Gemeinscha­ft, die sich an diesem Osterfest nicht in gewohnter Weise versammeln konnte, aber trotzdem über die Medien im Gebet verbunden war. Als der Diakon das Osterevang­elium nach Matthäus sang, trat für mich aber diese prachtvoll­e Kulisse des Petersdoms in den Hintergrun­d und ich konnte mich – vielleicht mehr als in einer gewöhnlich­en Osternacht, welche ich zuhause in einer Kirche mitgefeier­t hätte – ganz auf das Zentrum von Ostern konzentrie­ren, nämlich auf die Erzählung von der Auferstehu­ng Jesu. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass der auferstand­ene Jesus durch das feierliche Hören des Osterevang­eliums direkt zu uns persönlich in unser Wohnzimmer hineingetr­eten ist.

Ich lade Sie nun ein, einige Augenblick­e der Stille zu halten und für sich zu überlegen, ob Sie an diesem Osterfest, an dem wir auf so viele liebgewonn­ene Kontakte und auf öffentlich­e Gottesdien­ste verzichten mussten, trotzdem kleine oder große Ostererfah­rungen mit dem auferstand­enen Jesus hatten.

Stille

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Thomas“ von
Michelange­lo
Merisi da
Caravaggio
„Der ungläubige Thomas“ von Michelange­lo Merisi da Caravaggio
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FOTO: PRIVAT Michael Maier

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