Das Versagen des Zentralstaats
In Frankreich haben die Regionalpräsidenten im Kampf gegen Corona Tatkraft bewiesen
PARIS - Ein Airbus aus Schanghai landete Anfang April auf dem Flughafen Basel-Mulhouse. An Bord: 3,6 Millionen Masken, die zum Schutz vor Covid-19 unter anderem für Altersheime und häusliche Pflegedienste in der Region BourgogneFranche-Comté und im Süden Frankreichs gedacht waren. Doch abgeholt wurde sie von Soldaten, die die Lieferung im Namen des Staates beschlagnahmten und an die regionale Agentur des Gesundheitsministeriums in Ostfrankreich weiterleiteten. „Jeder bestellt Masken, aber keiner will es mehr laut sagen, aus Angst, dass der Staat sie einkassiert“, kritisierte Renaud Muselier, der Präsident der Vereinigung der Regionen Frankreichs.
Doch die Aktion zeigte nicht nur, wie stark der Zentralstaat in Frankreich ist – sondern auch wie schwach. Die Beschlagnahmung lag zwar durchaus in der Kompetenz der Regierung, denn ein Dekret sieht vor, dass das Gesundheitsministerium aus dem Ausland eingeführte Masken bis Ende Mai für das medizinische Personal beanspruchen darf. Auch ein Einheitspreis für Reinigungsgel wurde auf diese Weise festgelegt. Die ordnende Hand des Staates hatte es allerdings im Vorfeld versäumt, ausreichend Mundschutz für die Krankenhäuser im Falle einer Epidemie zu lagern. Eine strategische Reserve wurde 2013 aufgelöst, sodass am 21. März, als schon eine Ausgangssperre galt, nur fünf Millionen FFP2-Masken mit Atemfilter verfügbar waren. Kein Wunder also, dass Regionen und Kommunen die Möglichkeit, selbst ihre Masken zu bestellen, auch nutzten. Rund 60 Millionen Masken kamen auf diesem Weg seither ins Land.
Gleiches gilt auch für die Virustests, von denen laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Mitte April 5,1 auf tausend Einwohner kamen. Frankreich gehörte damit zu den Schlusslichtern der OECD – hinter der Türkei und vor Chile. Unter dem Titel „Fiasko des Staates“enthüllte die Zeitung „Le Monde“bürokratische Hürden, die breit angelegte Tests schon im März verhinderten. So untersagten einige der regionalen Agenturen des Gesundheitsministeriums privaten Labors zunächst, die Nachweise vorzunehmen. Auch Forschungslabore und tiermedizinische Einrichtungen kamen anfangs nicht zum Zug.
Die Corona-Pandemie zeigt die Grenzen des zentralistischen Staatsmodells auf. Dem Virus ist die territoriale Gleichheit, auf die sich die Regierung beruft, gleichgültig. Im Großraum Paris gibt es Tausende Tote, im ländlichen Département Lozère in den Cevennen dagegen keinen einzigen. „Die auf den Staat ausgerichtete zentralisierte Organisation war der Situation nicht angepasst“, gibt der frühere Minister François Bayrou, ein enger Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron, zu. „Wenn man etwas aus der Krise lernen kann, dann die Tatsache, dass die lokalen Initiativen viel wirksamer sind, um auf Unvorhergesehenes zu reagieren“, sagte er der Zeitung „Figaro“.
Genau solche Initiativen waren allerdings nicht willkommen. Als Städte wie Sceaux in der Nähe von Paris eine Maskenpflicht einführen wollten, zwang Innenminister Christophe Castaner sie, die Entscheidung zurückzunehmen. Gleichheit müsse auch zwischen Frankreichs Kommunen das oberste Gebot sein, lautete das Argument.
Der Zentralismus ist ein Erbe der französischen Revolution. Die für zentralstaatliche Gleichheit kämpfenden Jakobiner hatten damals die Girondisten ausgeschaltet, die für stärkere lokale Freiheiten eintraten. Forderungen nach mehr regionaler Autonomie, wie sie beispielsweise die Korsen erheben, sind seither tabu.
Doch über eine Dezentralisierung wird seit Jahrzehnten diskutiert. Präsident François Mitterrand machte den Anfang damit, zentralstaatliche Kompetenzen scheibchenweise abzugeben. Seit 2003 steht in Artikel 1 der Verfassung: „Die Organisation (der französischen Republik) ist dezentralisiert.“Dass das nur in der Theorie gilt, machten allerdings die Proteste der Gelbwesten deutlich. Die „Gilets jaunes“gingen 2019 auch deshalb auf die Straße, weil die Regierung in Paris Dinge entscheidet, die die Menschen Hunderte Kilometer entfernt in der Provinz betreffen. Zum Beispiel die Erhöhung der CO2Steuer auf Benzin, die in der Landbevölkerung
Unmut und monatelange Demonstrationen auslöste.
Im Zuge der Proteste begann Macron eine nationale Debatte, die ihn in die tiefste Provinz führte. Der als abgehoben geltende Präsident suchte plötzlich den Kontakt zu den Bürgermeistern der 36 000 Kommunen, den mit Abstand beliebtesten Amtsträgern. Heraus kam unter anderem das Versprechen, die Dezentralisierung weiter voranzutreiben. Ein neuer Schritt war eigentlich für dieses Frühjahr geplant. Der Staatschef hatte versprochen, das komplizierte Schichtmodell der Kompetenzen zu vereinfachen und den Regionen mehr Verantwortung beispielsweise beim Umweltschutz zu übertragen.
Im Lichte der Corona-Pandemie wirkt ein solcher Plan allerdings viel zu schwach. Schließlich waren die Regionalpräsidenten die „fliegenden Feuerwehrleute“vor Ort, wie es einer von ihnen ausdrückte. Sie kümmerten sich nicht nur um Masken, sondern vergaben auch schnelle Finanzhilfen an Not leidende Kleinunternehmen und besorgten Computer für den Fernunterricht sozial schwacher Schüler. Gegen den Allmachtsanspruch des Zentralstaats treten sie jetzt entsprechend selbstbewusst auf. „Frankreich muss das Prinzip der Subsidiarität erörtern“, fordert der Präsident der Region Normandie, Hervé Morin. Morin will auf alle Fälle mitreden, wenn es um das Ende der Ausgangssperre geht. Denn dass der Lockdown in der nur wenig von Covid-19 betroffenen Normandie genauso lange dauert wie im Osten mit seinen Tausenden Toten, sieht er nicht ein.
Eine Abkehr vom Zentralismus können sich die Regionalregierungen aber nicht vorstellen. Ein föderales Modell mit mächtigen Regionen, die mehr als nur die Oberstufe der Gymnasien oder den öffentlichen Verkehr in ihren Händen haben, geht Morin zu weit. „Frankreich ist nicht für den Föderalismus gemacht“, sagt der konservative Politiker, der mit seiner Meinung nicht allein steht. Es gibt keine einzige größere Partei, die für einen föderalen Staat eintritt. Dass Länder wie Deutschland mit seinen selbstbewussten Bundesländern bisher besser durch die Krise gekommen sind, wird allerdings auch in Frankreich zur Kenntnis genommen.
Die Franzosen, die inzwischen fast 23 000 Tote zählen, schauen sehr genau auf die viermal niedrigere Sterbezahl in Deutschland. In das Krisenmanagement des Präsidenten haben nur noch 41 Prozent seiner Landsleute Vertrauen. Mehr trauen sie der Regierung zu, wenn es um die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie geht. Dann ist der starke Staat wieder gefragt. „Die erste Antwort wird lauten: Wir brauchen einen Staat, der schützt, denn wir haben Millionen Arbeitslose“, sagt Jérôme Fourquet vom Meinungsforschungsinstitut Ifop voraus. Die Corona-Pandemie hat die Schwächen des Zentralismus offengelegt. Dessen Ende hat sie aber noch lange nicht eingeläutet.