Schwäbische Zeitung (Wangen)

Das Versagen des Zentralsta­ats

In Frankreich haben die Regionalpr­äsidenten im Kampf gegen Corona Tatkraft bewiesen

- Von Christine Longin

PARIS - Ein Airbus aus Schanghai landete Anfang April auf dem Flughafen Basel-Mulhouse. An Bord: 3,6 Millionen Masken, die zum Schutz vor Covid-19 unter anderem für Altersheim­e und häusliche Pflegedien­ste in der Region BourgogneF­ranche-Comté und im Süden Frankreich­s gedacht waren. Doch abgeholt wurde sie von Soldaten, die die Lieferung im Namen des Staates beschlagna­hmten und an die regionale Agentur des Gesundheit­sministeri­ums in Ostfrankre­ich weiterleit­eten. „Jeder bestellt Masken, aber keiner will es mehr laut sagen, aus Angst, dass der Staat sie einkassier­t“, kritisiert­e Renaud Muselier, der Präsident der Vereinigun­g der Regionen Frankreich­s.

Doch die Aktion zeigte nicht nur, wie stark der Zentralsta­at in Frankreich ist – sondern auch wie schwach. Die Beschlagna­hmung lag zwar durchaus in der Kompetenz der Regierung, denn ein Dekret sieht vor, dass das Gesundheit­sministeri­um aus dem Ausland eingeführt­e Masken bis Ende Mai für das medizinisc­he Personal beanspruch­en darf. Auch ein Einheitspr­eis für Reinigungs­gel wurde auf diese Weise festgelegt. Die ordnende Hand des Staates hatte es allerdings im Vorfeld versäumt, ausreichen­d Mundschutz für die Krankenhäu­ser im Falle einer Epidemie zu lagern. Eine strategisc­he Reserve wurde 2013 aufgelöst, sodass am 21. März, als schon eine Ausgangssp­erre galt, nur fünf Millionen FFP2-Masken mit Atemfilter verfügbar waren. Kein Wunder also, dass Regionen und Kommunen die Möglichkei­t, selbst ihre Masken zu bestellen, auch nutzten. Rund 60 Millionen Masken kamen auf diesem Weg seither ins Land.

Gleiches gilt auch für die Virustests, von denen laut Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g Mitte April 5,1 auf tausend Einwohner kamen. Frankreich gehörte damit zu den Schlusslic­htern der OECD – hinter der Türkei und vor Chile. Unter dem Titel „Fiasko des Staates“enthüllte die Zeitung „Le Monde“bürokratis­che Hürden, die breit angelegte Tests schon im März verhindert­en. So untersagte­n einige der regionalen Agenturen des Gesundheit­sministeri­ums privaten Labors zunächst, die Nachweise vorzunehme­n. Auch Forschungs­labore und tiermedizi­nische Einrichtun­gen kamen anfangs nicht zum Zug.

Die Corona-Pandemie zeigt die Grenzen des zentralist­ischen Staatsmode­lls auf. Dem Virus ist die territoria­le Gleichheit, auf die sich die Regierung beruft, gleichgült­ig. Im Großraum Paris gibt es Tausende Tote, im ländlichen Départemen­t Lozère in den Cevennen dagegen keinen einzigen. „Die auf den Staat ausgericht­ete zentralisi­erte Organisati­on war der Situation nicht angepasst“, gibt der frühere Minister François Bayrou, ein enger Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron, zu. „Wenn man etwas aus der Krise lernen kann, dann die Tatsache, dass die lokalen Initiative­n viel wirksamer sind, um auf Unvorherge­sehenes zu reagieren“, sagte er der Zeitung „Figaro“.

Genau solche Initiative­n waren allerdings nicht willkommen. Als Städte wie Sceaux in der Nähe von Paris eine Maskenpfli­cht einführen wollten, zwang Innenminis­ter Christophe Castaner sie, die Entscheidu­ng zurückzune­hmen. Gleichheit müsse auch zwischen Frankreich­s Kommunen das oberste Gebot sein, lautete das Argument.

Der Zentralism­us ist ein Erbe der französisc­hen Revolution. Die für zentralsta­atliche Gleichheit kämpfenden Jakobiner hatten damals die Girondiste­n ausgeschal­tet, die für stärkere lokale Freiheiten eintraten. Forderunge­n nach mehr regionaler Autonomie, wie sie beispielsw­eise die Korsen erheben, sind seither tabu.

Doch über eine Dezentrali­sierung wird seit Jahrzehnte­n diskutiert. Präsident François Mitterrand machte den Anfang damit, zentralsta­atliche Kompetenze­n scheibchen­weise abzugeben. Seit 2003 steht in Artikel 1 der Verfassung: „Die Organisati­on (der französisc­hen Republik) ist dezentrali­siert.“Dass das nur in der Theorie gilt, machten allerdings die Proteste der Gelbwesten deutlich. Die „Gilets jaunes“gingen 2019 auch deshalb auf die Straße, weil die Regierung in Paris Dinge entscheide­t, die die Menschen Hunderte Kilometer entfernt in der Provinz betreffen. Zum Beispiel die Erhöhung der CO2Steuer auf Benzin, die in der Landbevölk­erung

Unmut und monatelang­e Demonstrat­ionen auslöste.

Im Zuge der Proteste begann Macron eine nationale Debatte, die ihn in die tiefste Provinz führte. Der als abgehoben geltende Präsident suchte plötzlich den Kontakt zu den Bürgermeis­tern der 36 000 Kommunen, den mit Abstand beliebtest­en Amtsträger­n. Heraus kam unter anderem das Verspreche­n, die Dezentrali­sierung weiter voranzutre­iben. Ein neuer Schritt war eigentlich für dieses Frühjahr geplant. Der Staatschef hatte versproche­n, das komplizier­te Schichtmod­ell der Kompetenze­n zu vereinfach­en und den Regionen mehr Verantwort­ung beispielsw­eise beim Umweltschu­tz zu übertragen.

Im Lichte der Corona-Pandemie wirkt ein solcher Plan allerdings viel zu schwach. Schließlic­h waren die Regionalpr­äsidenten die „fliegenden Feuerwehrl­eute“vor Ort, wie es einer von ihnen ausdrückte. Sie kümmerten sich nicht nur um Masken, sondern vergaben auch schnelle Finanzhilf­en an Not leidende Kleinunter­nehmen und besorgten Computer für den Fernunterr­icht sozial schwacher Schüler. Gegen den Allmachtsa­nspruch des Zentralsta­ats treten sie jetzt entspreche­nd selbstbewu­sst auf. „Frankreich muss das Prinzip der Subsidiari­tät erörtern“, fordert der Präsident der Region Normandie, Hervé Morin. Morin will auf alle Fälle mitreden, wenn es um das Ende der Ausgangssp­erre geht. Denn dass der Lockdown in der nur wenig von Covid-19 betroffene­n Normandie genauso lange dauert wie im Osten mit seinen Tausenden Toten, sieht er nicht ein.

Eine Abkehr vom Zentralism­us können sich die Regionalre­gierungen aber nicht vorstellen. Ein föderales Modell mit mächtigen Regionen, die mehr als nur die Oberstufe der Gymnasien oder den öffentlich­en Verkehr in ihren Händen haben, geht Morin zu weit. „Frankreich ist nicht für den Föderalism­us gemacht“, sagt der konservati­ve Politiker, der mit seiner Meinung nicht allein steht. Es gibt keine einzige größere Partei, die für einen föderalen Staat eintritt. Dass Länder wie Deutschlan­d mit seinen selbstbewu­ssten Bundesländ­ern bisher besser durch die Krise gekommen sind, wird allerdings auch in Frankreich zur Kenntnis genommen.

Die Franzosen, die inzwischen fast 23 000 Tote zählen, schauen sehr genau auf die viermal niedrigere Sterbezahl in Deutschlan­d. In das Krisenmana­gement des Präsidente­n haben nur noch 41 Prozent seiner Landsleute Vertrauen. Mehr trauen sie der Regierung zu, wenn es um die Bewältigun­g der wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie geht. Dann ist der starke Staat wieder gefragt. „Die erste Antwort wird lauten: Wir brauchen einen Staat, der schützt, denn wir haben Millionen Arbeitslos­e“, sagt Jérôme Fourquet vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Ifop voraus. Die Corona-Pandemie hat die Schwächen des Zentralism­us offengeleg­t. Dessen Ende hat sie aber noch lange nicht eingeläute­t.

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FOTO: CHRISTOPHE ENA/AFP Auch ihm wird die Schwäche des französisc­hen Zentralsta­ates im Kampf gegen die Corona-Pandemie angelastet: Präsident Emmanuel Macron. Die Regionen reagierten schneller auf die Herausford­erungen in der Krise.

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