Schwäbische Zeitung (Wangen)

Das Fest fällt aus, die Freundscha­ft bleibt

600 Bewohner der Kanalinsel Jersey waren im Schloss von Bad Wurzach interniert

- Von Katja Waizenegge­r

BAD WURZACH/BIBERACH - Die große Feier ist abgesagt. Mit 40 hochrangig­en Gästen von der Kanalinsel Jersey wollte man die Befreiung der 600 Interniert­en feiern, die von 1942 bis zur Befreiung am 28. April 1945 im Wurzacher Schloss gefangen gehalten wurden. Dass sich aus dieser Internieru­ng Freundscha­ften zwischen Deutschen und Jerseyern und schließlic­h sogar eine Städtepart­nerschaft entwickelt hat, war bestimmt nicht Hitlers Plan – und ist doch genau so gekommen.

Waren die Inseln Jersey, Guernsey und Sark im Ärmelkanal wegen ihres gemäßigten Klimas traditione­ll Ziele für die Sommerfris­che der Briten, so veränderte der deutsche Vormarsch im Westen 1940 die Situation innerhalb weniger Wochen. Winston Churchill war nicht bereit, Truppen zur Verteidigu­ng der Inseln zu schicken. Die Autonomie, auf die alle Inselbewoh­ner immer so viel Wert gelegt haben, sie wurde zum Verhängnis. Einige flohen nach England, aber viele blieben und mussten sich am 1. Juli 1940 den deutschen Besatzern unterwerfe­n.

Warum nun insgesamt 2000 Inselbewoh­ner nach Deutschlan­d deportiert wurden, ist eine verworrene Geschichte. Hitlers Zorn war der Ausgangspu­nkt. Als der im September 1941 erfuhr, dass die britische Regierung im eigentlich neutralen Iran deutsche Ingenieure in Lager hatte bringen lassen, war er erbost. „Er wollte sich rächen und seinerseit­s Briten interniere­n. Allerdings hatte er nur auf den von Deutschlan­d besetzten Kanalinsel­n Zugriff auf britische Staatsbürg­er“, erklärt die Historiker­in Gisela Rothenhäus­ler aus Bad Wurzach, die in ihrem Buch „Das Wurzacher Schloss 1940 – 1945“die Ereignisse detaillier­t dokumentie­rt.

Als ab dem 16. September 1942 die in England geborenen Inselbewoh­ner und ihre Familien nach Deutschlan­d deportiert wurden, hatte niemand mehr diesen Vorfall im Kopf. Das Internieru­ngslager

Dorsten in Nordrhein-Westfalen war die erste Station. Danach ging es für viele Familien weiter nach Biberach ins Lager Lindele, ein ehemaliges Kriegsgefa­ngenenlage­r. Eine Überfüllun­g in Biberach, aber auch gern gepflegte Rivalitäte­n der benachbart­en Inseln Jersey und Guernsey waren der Grund für die Verlegung der Jersey-Gefangenen ins Wurzacher Schloss.

Tony Barnett, damals sieben Jahre alt, erzählte bei einem Besuch 2015 von den ersten Eindrücken: „Nach eineinhalb Monaten kamen wir nach Wurzach. Von außen sah es schöner aus, aber es war schmutzig, und meine arme Mutter verzweifel­te an den Umständen, unter denen wir leben mussten.“Gisela Rothenhäus­lers Recherchen bestätigen die katastroph­ale Unterbring­ung der interniert­en Familie: „Zuvor waren Kriegsgefa­ngene im Schloss untergebra­cht. Die haben nicht noch schnell saubergema­cht bevor sie abtranspor­tiert wurden.“

„Gips, der von den Decken und Wänden fällt, feuchte Räume und Betten.“

Wer bis dahin vielleicht vom Leben in einem Schloss geträumt hatte, wurde umgehend ernüchtert: „Lange, steinerne Korridore, steile Treppen und verdreckte, feuchte Räume! Gips, der von den Decken und Wänden fällt, fürchterli­che sanitäre Einrichtun­gen, feuchte Betten.“Diese ersten Eindrücke Joan Coles’ nach der Ankunft in der neuen Bleibe erwähnt Rothenhäus­ler in ihrem Buch. Die Räume des Schlosses, in dem die Salvatoria­ner bis 1940 ein Internat betrieben hatten, waren herunterge­kommen. Die ersten Wochen waren hart, geprägt durch Hunger und Heimweh.

Eine Frage stellt sich im Gespräch mit Gisela Rothenhäus­lser, die so viele Jahre zu diesem Thema recherchie­rt und nun als Vorsitzend­e des Partnersch­aftsverein­s das große Treffen auf deutscher Seite organisier­t hat: Kann man ein Leid gegen das andere abwägen? Fest steht: Schlimmer geht immer. Die Umstände, unter denen die interniert­en Familien in Wurzach und Biberach lebten, waren ungleich besser als die in einem Konzentrat­ionsoder Arbeitslag­er.

„Die Interniert­en galten als westliche Kriegsgefa­ngene und deshalb unterlag ihr Aufenthalt den Regelungen der Genfer Konvention – an die sich auch die Nationalso­zialisten gehalten haben, allein schon, um ihre eigenen Gefangenen im Ausland zu schützen“, betont die Historiker­in,

Joan Coles erster Eindruck des Wurzacher Schlosses die am Salvatorko­lleg unterricht­et. Das bedeutete eine Betreuung durch die Schutzmach­t Schweiz, Kontrollbe­suche durch das IKRK (Internatio­nales Komitee des Roten Kreuzes) und die Kriegsgefa­ngenenhilf­e der YMCA. Lebensmitt­elpakete wurden aus der Heimat geliefert – allerdings nur in der ersten Zeit, denn die Versorgung­slage auf den Kanalinsel­n spitzte sich durch die Isolation zum Kriegsende dramatisch zu. Die Bewachung der Anlage sowohl in Biberach als auch in Wurzach war schon bald von der Wehrmacht an Schutzpoli­zisten aus Stuttgart übergegang­en. Damit wurde auch der Umgang mit den Interniert­en freundlich­er und war nicht mehr vom militärisc­hem Drill geprägt.

Aber die Menschen aus Jersey lebten in kalten, überfüllte­n Schlafsäle­n und hinter Stacheldra­ht. Gegen ihren Willen. Lola Garvin, die bei ihrer Deportatio­n erst acht Monate alt war, ist überzeugt davon, dass die Eltern am meisten unter der Situation litten. Ihre Mutter kehrte traumatisi­ert nach Jersey zurück. „Es gab keine Privatsphä­re in den großen Räumen. Der Lärm, der Schmutz, die Streiterei­en – all das hat ihr sehr zugesetzt“, erzählt Lola Garvin am Telefon. Ihr Vater hat sich gesundheit­lich nicht mehr erholt und starb, als Lola 13 Jahre alt war.

Doch was für Erwachsene äußert belastende Zustände waren, setzte den 200 Kindern und Jugendlich­en im Schloss meist nicht so zu. Zum

Beispiel beschrieb der damals 14-jährige Michael Ginns seine Zeit im Schloss als eine „Erfahrung, die ich nicht missen möchte“. Seine Mutter war Krankensch­wester, er konnte mit ihr in der Krankensta­tion leben. Zusammen mit einer anderen Gruppe von Jugendlich­en besorgte er das Brot beim Bäcker in der Stadt und nutzte den Ausgang zu Kontakten. Kaum Schulunter­richt, dafür Theaterauf­führungen, Sportveran­staltungen, Tanzabende, Kino und sonstiger Zeitvertre­ib, mit dem die Interniert­en ein Stück Normalität wahren wollten – für die Jugendlich­en war das Leben im Schloss oft weniger restriktiv als der übliche Schulallta­g.

Vor allem die Spaziergän­ge in die Umgebung waren beliebt, Ausflüge in den „Hasen“nach Albers boten die Gelegenhei­t zur Einkehr – und als Nebeneffek­t einen florierend­en Tauschhand­el: Schokolade aus den Rot-Kreuz-Paketen der Jerseyer gegen Lebensmitt­el und Kleidung.

„Der Kontakt der Interniert­en zur Bevölkerun­g war in Wurzach enger als wahrschein­lich in Biberach, denn das Schloss liegt mitten im Ort“, vermutet Rothenhäus­ler. Und doch dauerte es Jahrzehnte, bis später die privaten Kontakte und Freundscha­ften durch eine offizielle Städtepart­nerschaft zwischen Bad Wurzach und St. Helier auf Jersey besiegelt wurden. Der Widerstand in der Bevölkerun­g auf Jersey war lange zu groß. Erst 2002 unterzeich­neten Bürgermeis­ter Roland Bürkle und sein Amtskolleg­e aus Jersey, Simon Crowcroft, Bailiff genannt, die Partnersch­aftsurkund­e.

Es sei „extrem traurig“, so Lola Garvin, dass die von ihr mitorganis­ierten Veranstalt­ungen zur Befreiung des Lagers ausfallen müssen. Vor allem, da es für die ehemaligen Interniert­en wohl die letzte Reise nach Bad Wurzach gewesen wäre. Noch etwa 15 bis 20 leben heute auf Jersey, die meisten sind allerdings zu gebrechlic­h, um die Reise im kommenden Jahr nachzuhole­n. „Aber es gibt einen Austausch der Jugend, und das macht mich glücklich“, sagt die Dame. Ihren Eltern hat die Internieru­ng nichts Gutes gebracht. Und doch hat sie den Bad Wurzachern die Hand zur Wiedergutm­achung gereicht.

Weitere Informatio­nen zu den Kanalinsel­n und der Internieru­ng während des Krieges:

Gisela Rothenhäus­ler: Das Wurzacher Schloss 1940–45. Kunstverla­g Josef Fink.

Reinhold Adler: Das war nicht nur „Karneval im August“. Das Internieru­ngslager Biberach an der Riß 1942–1945. Biberacher Studien, Bd. 6.

Ein Bestseller-Roman erzählt das Schicksal einer jungen Schriftste­llerin während der Besatzungs­zeit auf Guernsey: Mary Ann Shaffer: Deine Juliet. btb Verlag. 2018 kam der gleichnami­ge Film mit Lily James in die Kinos.

Die SWR-Landesscha­u wird am heutigen Dienstag, 19.30 Uhr, über die Städtepart­nerschaft berichten.

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FOTO: ULI GRESSER Der inzwischen verstorben­e Michael Ginns (Mitte) erzählt 2007 Wurzacher Schülern von der Zeit, als er im Wurzacher Schloss interniert war.

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