Entlarvende Demonstrationen in einem rauer werdenden Klima
An den vergangenen drei Wochenenden hat es in Wangen vier Demonstrationen gegeben. Diese vergleichsweise hohe Anzahl in so kurzer Zeit ist für das politisch eher beschauliche Wangen ungewöhnlich. Hat sich also durch die Corona-Krise etwas verändert in den vergangenen zwei Monaten, die wirklich alle Bürger spüren – entweder weil sie selbst oder das Umfeld von dem Virus betroffen waren oder weil die Einschnitte allenthalben merklich und drastisch waren und teilweise noch immer sind?
Zunächst möchte man sagen: nein. Wer sich umschaut, merkt: Weite Teile der Bevölkerung akzeptierten die Einschränkungen von Anfang an und tun dies bis heute. Anders wären seit längerem nahezu stagnierende Neuinfektionszahlen nicht erklärbar. Auch der Zulauf zu den bislang drei „Grundrechte“-Demos hielt sich in überschaubarem Rahmen. Bei in der Summe etwas mehr als 700 Menschen dort und einer Einwohnerzahl von rund 27 000 kann von einer Protestbewegung keine Rede sein. Von einer breiten schon mal gar nicht, zieht man in Betracht, dass die Teilnehmer längst nicht alle aus Wangen kamen.
Und doch regt sich etwas in der Stadt. Merklich im Alltagsleben, in dem bei vielen Gelegenheiten Missfallen über einzelne Einschränkungen hörbar werden – die jeden fordernde Maskenpflicht allem voran. In den vergangenen Wochen besonders geforderte Eltern sind unruhig, weil Schulen wie Kindergärten erst teilweise oder noch gar nicht wieder geöffnet sind. Und Geschäftsleute werden nervös, weil trotz Öffnungen nach wie vor das Damoklesschwert einer wirtschaftlich gefährdeten Existenz über ihnen schwebt – um nur wenige Beispiele für tatsächliche, gravierende Sorgen zu nennen. All dies trägt bisweilen zu einem unfreundlicherem Klima als sonst bei.
Festzumachen ist dies etwa am rauer werdenden Ton in lokalen Gruppen der so genannten Sozialen Netzwerke, an manch erlebten oder kolportierten Gesprächen wie Begebenheiten in letzter Zeit, aber auch an der Art und Weise des Umgangs miteinander. Trauriger, bislang öffentlich bekannt gewordener Höhepunkt dieser sich in der Region verbreitenden Entwicklung ist der angekündigte Rücktritt von Achbergs Bürgermeister.
Der sicherlich streitbare Johannes Aschauer wirft hin, weil er nach dem dortigen Zimmereibrand die Bürger zum Sammeln von Rußklumpen aufgefordert und deshalb eine – nach Prüfung ad acta gelegte – Dienstaufsichtsbeschwerde kassiert hatte. Aufruf und Aktion sind unstrittig diskutabel, die anonyme Art und Weise des Vorgehens der Beschwerdeführer aber mehr als unter der Gürtellinie – um das böse Wort vom Denunziantentum zu vermeiden.
Die derzeitigen Demonstrationen haben natürlich mit Achbergs Bürgermeister, der Rußklumpensammlung und der Dienstaufsichtsbeschwerde gar nichts zu tun. Mögen sie auch wenig Zulauf haben, Ausschläge auf dem derzeitigen Stimmungsseismographen hinterlassen die Kundgebungen allein schon, weil sie stattfinden.
Allerdings in teils völlig unterschiedlichen Ausprägungen. Da ist zunächst die Veranstaltung der „Seebrücke“vom Samstag. Sie unterschied sich in Art und Zielrichtung völlig von den anderen Demos der vergangenen drei Wochenenden, hatte sie nicht die „Grundrechte“an sich zum Thema, sondern vor allem von der Corona-Pandamie besonders Gebeutelte im Blick. Überdies existierte die weit überregionale „Seebrücke“-Bewegung, die Kommunen zur eigenständigen und zusätzlichen Aufnahme von Flüchtlingen auffordert, schon lange vor der Krise.
Bei den drei „Grundrechte“-Demos sind ebenfalls Differenzen festzustellen – allein schon wegen der verschiedenen Veranstalter, aber auch buchstäblich. Zu zwei Kundgebungen hatte unter anderem Gerhard Fiegl aufgerufen, zu einer weiteren vor etwas mehr als Wochenfrist eine andere vierköpfige Gruppe aus der Stadt.
Letztere ging schon von vornherein auf Abstand zu Fiegl und Co.. Das wurde bei Gesprächen mit den beiden Hauptorganisatorinnen, Sabine Henn und Ulrike Tröbst, deutlich – und in Dialogen zwischen den Sympathisanten der Anliegen Fiegls. Die hatten sich im Zuge ihrer ersten Demonstration vor gut zwei Wochen in einer Gruppe des MessengerDienstes Telegram zusammengefunden. Thema dort war unter anderem das Bedauern über den nicht geglückten Zusammenschluss.
Lange öffentlich zugänglich, im Laufe des Samstags für Nichtmitglieder gesperrt und mittlerweile offenbar nicht mehr existent, braute sich dort schriftlich schon zusammen, was bei der jüngsten Veranstaltung auf dem Milchpilzparkplatz verbal in übler Weise und sprachlich deutlich radikaler als zwei Wochen zuvor zu Tage trat. Wie im Internet als auch vor Ort war von einer „Terror-Regierung“in Deutschland die Rede oder sinngemäß davon, das die Demos nur stattfinden dürften, um deren Organisatoren anschließend die zweite Welle von Corona-Infizierten „in die Schuhe“schieben zu können: im Kern hier wie dort also keine Verteidigung von Grundrechten, sondern unverhohlene Umsturzforderungen des „Systems“.
Trotz personeller wie organisatorischer Trennung der Veranstaltungen und sicher ernsthafter Sorgen einzelner Teilnehmer über die Folgen der Corona-Krise war auch aus der zweiten „Grundrechte“-Demogruppe teils sehr Überspitztes oder schlicht Schiefes zu hören. Die vor Wochenfrist formulierte Furcht, dass sich Schulen in „Kasernen“verwandeln, in denen man „nur noch in Reih und Glied“laufen darf, ist trotz der eingerichteter Vorkehrungen an den Bildungseinrichtungen einfach übertrieben. Mehr noch: Sie gibt deren Ziel, die Infektionsvorbeugung, eine verdrehte, nicht belegbare Intention.
Und nicht nur das: Wer sinngemäß aus dem Beitrag zweier Ärzte in der amerikanischen medizinischen Fachzeitschrift „The Journal of der American Medical Association“(Jama) zitiert und daraus folgert, die „Vernichtung unserer Freiheit und Menschenwürde, von Freizügigkeiten der Bewegung und körperlichen Unversehrtheit“stehe bevor, spielt mit Ängsten von Menschen. Denn bei dem Text handelt es sich nicht um angebliche Planspiele von Regierungen oder Politikern oder gar die kurz bevorstehenden Verabschiedung entsprechender Gesetze.
Vielmehr erörtern die Autoren Govind Persad und Ezekiel J. Emanuel Fragen zu einer von ihnen diskutierten „Covid-19-Lizenz“, also einer Art „Immunitätsführerschein“, der dessen Inhabern Zugang beispielsweise zu Veranstaltungen ermöglicht – anderen aber nicht. Was sich in der Tat wie ein Schreckenszenario liest, empfehlen die Autoren aber beileibe nicht, sondern erörtern es lediglich unter ethischen (persönliche Einschränkungen und Diskriminierung) wie medizinischen Gesichtspunkten (effiziente Verhinderung der weiteren Virusausbreitung) – und sprechen sich grundsätzlich für die größtmögliche Freiheit der Menschen aus. Der vor gut einer Woche auf dem Milchpilzparkplatz postulierte, nahende, dauerhafte und vorgeblich zur Normalität werdende „Lockdown“ist also bloße Interpretation.
Zu erwarten ist, dass Demonstrationen, die die Wahrung der „Grundrechte“auf die Fahnen geschrieben bekommen, in den kommenden Wochen auch in Wangen fortgesetzt werden. Wer daran teilnimmt, weiß spätestens jetzt, was er tut. Denn zumindest die bisherigen Organisatoren haben sie inzwischen als demagogische, mindestens stark übertreibende und Sachverhalte verdrehende Veranstaltungen entlarvt. Ganz deutlich und zudem verfassungsfeindlich in dem einem Fall, ein Stück weit aber auch im anderen.