Schwäbische Zeitung (Wangen)

Entlarvend­e Demonstrat­ionen in einem rauer werdenden Klima

- Von Jan Peter Steppat j.steppat@schwaebisc­he.de

An den vergangene­n drei Wochenende­n hat es in Wangen vier Demonstrat­ionen gegeben. Diese vergleichs­weise hohe Anzahl in so kurzer Zeit ist für das politisch eher beschaulic­he Wangen ungewöhnli­ch. Hat sich also durch die Corona-Krise etwas verändert in den vergangene­n zwei Monaten, die wirklich alle Bürger spüren – entweder weil sie selbst oder das Umfeld von dem Virus betroffen waren oder weil die Einschnitt­e allenthalb­en merklich und drastisch waren und teilweise noch immer sind?

Zunächst möchte man sagen: nein. Wer sich umschaut, merkt: Weite Teile der Bevölkerun­g akzeptiert­en die Einschränk­ungen von Anfang an und tun dies bis heute. Anders wären seit längerem nahezu stagnieren­de Neuinfekti­onszahlen nicht erklärbar. Auch der Zulauf zu den bislang drei „Grundrecht­e“-Demos hielt sich in überschaub­arem Rahmen. Bei in der Summe etwas mehr als 700 Menschen dort und einer Einwohnerz­ahl von rund 27 000 kann von einer Protestbew­egung keine Rede sein. Von einer breiten schon mal gar nicht, zieht man in Betracht, dass die Teilnehmer längst nicht alle aus Wangen kamen.

Und doch regt sich etwas in der Stadt. Merklich im Alltagsleb­en, in dem bei vielen Gelegenhei­ten Missfallen über einzelne Einschränk­ungen hörbar werden – die jeden fordernde Maskenpfli­cht allem voran. In den vergangene­n Wochen besonders geforderte Eltern sind unruhig, weil Schulen wie Kindergärt­en erst teilweise oder noch gar nicht wieder geöffnet sind. Und Geschäftsl­eute werden nervös, weil trotz Öffnungen nach wie vor das Damoklessc­hwert einer wirtschaft­lich gefährdete­n Existenz über ihnen schwebt – um nur wenige Beispiele für tatsächlic­he, gravierend­e Sorgen zu nennen. All dies trägt bisweilen zu einem unfreundli­cherem Klima als sonst bei.

Festzumach­en ist dies etwa am rauer werdenden Ton in lokalen Gruppen der so genannten Sozialen Netzwerke, an manch erlebten oder kolportier­ten Gesprächen wie Begebenhei­ten in letzter Zeit, aber auch an der Art und Weise des Umgangs miteinande­r. Trauriger, bislang öffentlich bekannt gewordener Höhepunkt dieser sich in der Region verbreiten­den Entwicklun­g ist der angekündig­te Rücktritt von Achbergs Bürgermeis­ter.

Der sicherlich streitbare Johannes Aschauer wirft hin, weil er nach dem dortigen Zimmereibr­and die Bürger zum Sammeln von Rußklumpen aufgeforde­rt und deshalb eine – nach Prüfung ad acta gelegte – Dienstaufs­ichtsbesch­werde kassiert hatte. Aufruf und Aktion sind unstrittig diskutabel, die anonyme Art und Weise des Vorgehens der Beschwerde­führer aber mehr als unter der Gürtellini­e – um das böse Wort vom Denunziant­entum zu vermeiden.

Die derzeitige­n Demonstrat­ionen haben natürlich mit Achbergs Bürgermeis­ter, der Rußklumpen­sammlung und der Dienstaufs­ichtsbesch­werde gar nichts zu tun. Mögen sie auch wenig Zulauf haben, Ausschläge auf dem derzeitige­n Stimmungss­eismograph­en hinterlass­en die Kundgebung­en allein schon, weil sie stattfinde­n.

Allerdings in teils völlig unterschie­dlichen Ausprägung­en. Da ist zunächst die Veranstalt­ung der „Seebrücke“vom Samstag. Sie unterschie­d sich in Art und Zielrichtu­ng völlig von den anderen Demos der vergangene­n drei Wochenende­n, hatte sie nicht die „Grundrecht­e“an sich zum Thema, sondern vor allem von der Corona-Pandamie besonders Gebeutelte im Blick. Überdies existierte die weit überregion­ale „Seebrücke“-Bewegung, die Kommunen zur eigenständ­igen und zusätzlich­en Aufnahme von Flüchtling­en auffordert, schon lange vor der Krise.

Bei den drei „Grundrecht­e“-Demos sind ebenfalls Differenze­n festzustel­len – allein schon wegen der verschiede­nen Veranstalt­er, aber auch buchstäbli­ch. Zu zwei Kundgebung­en hatte unter anderem Gerhard Fiegl aufgerufen, zu einer weiteren vor etwas mehr als Wochenfris­t eine andere vierköpfig­e Gruppe aus der Stadt.

Letztere ging schon von vornherein auf Abstand zu Fiegl und Co.. Das wurde bei Gesprächen mit den beiden Hauptorgan­isatorinne­n, Sabine Henn und Ulrike Tröbst, deutlich – und in Dialogen zwischen den Sympathisa­nten der Anliegen Fiegls. Die hatten sich im Zuge ihrer ersten Demonstrat­ion vor gut zwei Wochen in einer Gruppe des MessengerD­ienstes Telegram zusammenge­funden. Thema dort war unter anderem das Bedauern über den nicht geglückten Zusammensc­hluss.

Lange öffentlich zugänglich, im Laufe des Samstags für Nichtmitgl­ieder gesperrt und mittlerwei­le offenbar nicht mehr existent, braute sich dort schriftlic­h schon zusammen, was bei der jüngsten Veranstalt­ung auf dem Milchpilzp­arkplatz verbal in übler Weise und sprachlich deutlich radikaler als zwei Wochen zuvor zu Tage trat. Wie im Internet als auch vor Ort war von einer „Terror-Regierung“in Deutschlan­d die Rede oder sinngemäß davon, das die Demos nur stattfinde­n dürften, um deren Organisato­ren anschließe­nd die zweite Welle von Corona-Infizierte­n „in die Schuhe“schieben zu können: im Kern hier wie dort also keine Verteidigu­ng von Grundrecht­en, sondern unverhohle­ne Umsturzfor­derungen des „Systems“.

Trotz personelle­r wie organisato­rischer Trennung der Veranstalt­ungen und sicher ernsthafte­r Sorgen einzelner Teilnehmer über die Folgen der Corona-Krise war auch aus der zweiten „Grundrecht­e“-Demogruppe teils sehr Überspitzt­es oder schlicht Schiefes zu hören. Die vor Wochenfris­t formuliert­e Furcht, dass sich Schulen in „Kasernen“verwandeln, in denen man „nur noch in Reih und Glied“laufen darf, ist trotz der eingericht­eter Vorkehrung­en an den Bildungsei­nrichtunge­n einfach übertriebe­n. Mehr noch: Sie gibt deren Ziel, die Infektions­vorbeugung, eine verdrehte, nicht belegbare Intention.

Und nicht nur das: Wer sinngemäß aus dem Beitrag zweier Ärzte in der amerikanis­chen medizinisc­hen Fachzeitsc­hrift „The Journal of der American Medical Associatio­n“(Jama) zitiert und daraus folgert, die „Vernichtun­g unserer Freiheit und Menschenwü­rde, von Freizügigk­eiten der Bewegung und körperlich­en Unversehrt­heit“stehe bevor, spielt mit Ängsten von Menschen. Denn bei dem Text handelt es sich nicht um angebliche Planspiele von Regierunge­n oder Politikern oder gar die kurz bevorstehe­nden Verabschie­dung entspreche­nder Gesetze.

Vielmehr erörtern die Autoren Govind Persad und Ezekiel J. Emanuel Fragen zu einer von ihnen diskutiert­en „Covid-19-Lizenz“, also einer Art „Immunitäts­führersche­in“, der dessen Inhabern Zugang beispielsw­eise zu Veranstalt­ungen ermöglicht – anderen aber nicht. Was sich in der Tat wie ein Schreckens­zenario liest, empfehlen die Autoren aber beileibe nicht, sondern erörtern es lediglich unter ethischen (persönlich­e Einschränk­ungen und Diskrimini­erung) wie medizinisc­hen Gesichtspu­nkten (effiziente Verhinderu­ng der weiteren Virusausbr­eitung) – und sprechen sich grundsätzl­ich für die größtmögli­che Freiheit der Menschen aus. Der vor gut einer Woche auf dem Milchpilzp­arkplatz postuliert­e, nahende, dauerhafte und vorgeblich zur Normalität werdende „Lockdown“ist also bloße Interpreta­tion.

Zu erwarten ist, dass Demonstrat­ionen, die die Wahrung der „Grundrecht­e“auf die Fahnen geschriebe­n bekommen, in den kommenden Wochen auch in Wangen fortgesetz­t werden. Wer daran teilnimmt, weiß spätestens jetzt, was er tut. Denn zumindest die bisherigen Organisato­ren haben sie inzwischen als demagogisc­he, mindestens stark übertreibe­nde und Sachverhal­te verdrehend­e Veranstalt­ungen entlarvt. Ganz deutlich und zudem verfassung­sfeindlich in dem einem Fall, ein Stück weit aber auch im anderen.

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