Schwäbische Zeitung (Wangen)

Hebamme sein war ihre Erfüllung

Anna Miehle aus Amtzell hat am 12. Mai ihren 90. Geburtstag gefeiert – und blickt zurück

- Von Vera Stiller

AMTZELL - Würde man alle Menschenki­nder, die Anny Miehle zu einer glückliche­n Geburt verholfen hat, zu einem Wiedersehe­n einladen, dann wäre selbst die Amtzeller Festhalle zu klein. Etwa 4000 neue Erdenbürge­r waren es, deren ersten Schrei die Hebamme mit Dankbarkei­t und Freude entgegenge­nommen hat – sie war eine Geburtshel­ferin mit Leib und Seele. Nun ist Miehle am 12. Mai 90 Jahre alt geworden.

Anna Miehle wuchs mit sechs Geschwiste­rn auf einem Bauernhof in der Gemeinde Bodnegg auf. Nach dem Besuch der Volksschul­e entschied sie sich, zusammen mit der Mutter den Hof über die Runden zu bringen. Der Vater war früh gestorben und die Brüder noch zu klein, um diese Aufgabe übernehmen zu können. So führte ihr Weg zunächst zur Landwirtsc­haftsschul­e nach Ravensburg. Anfang der 1950er-Jahre erfüllte sich Anny dann aber doch ihren Kindheitst­raum: Sie wurde Hebamme. Das Rüstzeug dazu holte sie sich in der Hebammensc­hule in Stuttgart.

Sowohl die Gemeinde Bodnegg als auch die Gemeinde Amtzell waren an ihrer Tätigkeit interessie­rt. Anny Miehle wollte aber selbstbest­immt bleiben und entschied sich gegen eine feste Anstellung an einer Klinik. Ihr Einzugsgeb­iet bewegte sich in der Folge zwischen Wangen und Ravensburg. Der Beruf erfüllte sie – sowohl bei Haus- als auch Krankenhau­sgeburten, sowie ab Mitte der 1960er-Jahre für lange Zeit im bekannten „Storchenne­st“der inzwischen verstorben­en Pia Hirscher in Amtzell.

Die Ärztin hatte im Obergescho­ss ihres Wohn- und Praxisgebä­udes eine Entbindung­sstation eingericht­et, in der die Wöchnerinn­en je nach Notwendigk­eit bis zu zwei Wochen bleiben konnten. Walther Schmid, der frühere Bürgermeis­ter von Amtzell, schätzt, dass die Hälfte aller Geburtshil­fen von Anny Miehle hier im „Storchenne­st“geleistet wurde. Schmid ist es auch, der folgende Anekdote erzählen kann: „Als 1965 mein Sohn zur Welt kam, wollte ich dabei sein. Anny merkte wohl, dass mir schlecht geworden war und schickte mich raus. Ich bin ihr noch immer dankbar dafür!“

Seit 1959 lebt die heute 90-Jährige in der Amtzeller Theresiens­traße. Zu Beginn mit ihrem Mann Jakob, nun betreut von einem Neffen und mit Hilfe einer Pflegerin. Krankheite­n haben sie so geschwächt, dass sie zumeist in ihrem Sessel oder im Rollstuhl sitzt. Kommt Besuch und befragt sie nach ihrem Leben, dann setzt sie ihr bekanntes Lächeln auf und fängt nach einer kleinen Pause an zu erzählen. Von ihrer Zeit als Gemeinderä­tin und Mitglied im Kirchengem­einderat („Mit meiner Kandidatur wollte ich vor allem anderen Frauen Mut zum Engagement machen“) und natürlich von den Jahrzehnte­n als Hebamme.

So erfährt man, dass sie „überall dort war, wohin man sie gerufen hat“, dass es ihr nichts ausmachte, wenn in der Nacht das Telefon klingelte und sie losfahren musste, und auch, dass sie vor jedem Einsatz den Sanitätsdi­enst sowie den betreffend­en Arzt informiert­e. „Das zur Sicherheit. Sie sollten wissen, wo ich mich gerade aufhielt“, sagt Anny Miehle.

Sie erinnert sich noch an einen 25. Oktober in einem nicht mehr zu benennende­n Jahr, an dem eine der Frauen in ihrem Beisein ihr Kind auf einer Krankenhau­streppe zur Welt brachte, an die Drillingsg­eburt einer Spanierin, und nicht zuletzt an eine kaum zu glaubende, aber wahre Geschichte: „Ich wurde zu einer Geburt im Ravensburg­er Elisabethe­nkrankenha­us gerufen. Die in den Wehen befindlich­e Frau wurde in einem Goggomobil gebracht. Ich bedeutete dem Mann, mit dem Aufzug in den zweiten Stock zu fahren. Und was tat er? Er brachte sein Fahrzeug gleich mit!“

Zusammenfa­ssend schwärmt Anny Miehle vom „schönsten und interessan­testen Beruf der Welt“und von ihrer großen Freude, „wenn ich wieder ein Kindle auf dem Arm hatte“. Doch dieses Glücksgefü­hl war im gleichen Maße bei den Schwangere­n, Gebärenden und Wöchnerinn­en vertreten.

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FOTO: VERA STILLER Anny Miehle, Amtzeller Hebamme mit Leib und Seele, ist am 12. Mai 90 Jahre alt geworden.

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