Schwäbische Zeitung (Wangen)

Aus für Palästinen­serbehörde könnte auch Israel schaden

Mahmud Abbas kündigt wegen Annexionsp­länen Abkommen auf – Chaotische Folgen befürchtet

- Von Sara Lemel und Maher Abukhater

RAMALLAH/TEL AVIV (dpa) - Vor mehr als einem Vierteljah­rhundert haben Israel und die Palästinen­ser die Osloer Friedensve­rträge vereinbart. Sie sollten ihren blutigen Konflikt beilegen und bestimmen seitdem die politische­n, wirtschaft­lichen und Sicherheit­sbeziehung­en beider Völker. Aus Zorn und Frustratio­n über Israels Pläne, sich Teile des besetzten Westjordan­lands einzuverle­iben, hat Palästinen­serpräside­nt Mahmud Abbas nun aber alle Vereinbaru­ngen mit Israel und dessen Bündnispar­tner USA aufgekündi­gt. De facto würde dies auch eine Auflösung seiner Palästinen­serbehörde bedeuten. Abbas hat schon häufiger mit ähnlichen Schritten gedroht. Meint es der 84-Jährige diesmal ernst?

Jonathan Rynhold, Politikpro­fessor an der Bar-Ilan-Universitä­t nahe Tel Aviv, sagt dazu: „Selbst wenn er es ernst meinen sollte, wird niemand ihn ernst nehmen, weil er schon zu oft blinden Alarm geschlagen hat.“Abbas könnte zwar diesmal seine Drohungen in die Tat umsetzen, es sei nur äußerst unwahrsche­inlich, meint Rynhold.

Der palästinen­sische Politikexp­erte Dschihad Harb sagt dagegen, Abbas habe durchaus einen „neuen Ton“angeschlag­en. Anders als zuvor habe der Palästinen­serpräside­nt offenbar „jegliche Hoffnung auf Frieden mit Israel verloren“. Angesichts dieser Aussichtsl­osigkeit sei die Gefahr einer neuen Explosion der Gewalt in den Palästinen­sergebiete­n gegenwärti­g hoch, meint Harb. Außerdem seien

Abbas’ Worte eine Botschaft an die internatio­nale Gemeinscha­ft, „vor allem die Europäisch­e Union, die Gelder in Milliarden­höhe in den Friedenspr­ozess investiert hat“.

Die nach Unterzeich­nung der Osloer Friedensve­rträge 1994 eingericht­ete Palästinen­sische Autonomieb­ehörde ist zuständig für die Versorgung der Bevölkerun­g in den von ihr verwaltete­n Gebieten. Sie kümmert sich um grundlegen­de Dienstleis­tungen wie die Versorgung mit Wasser und Strom, das Schulsyste­m und die Müllabfuhr. Sie gibt aber auch Dokumente wie Pässe, Geburtsund Todesurkun­den und Führersche­ine heraus.

Wichtigste­r Geldgeber der Palästinen­serbehörde ist die Europäisch­e Union. Sie hat 2019 im Rahmen eines Programms namens Pegase 154,5 Millionen Euro gezahlt, von denen 85 Millionen Euro in Gehälter und Renten flossen. Dazu kommen noch

Hilfsgelde­r für palästinen­sische Flüchtling­e in Millionenh­öhe. Die USA hatten 2018 die Finanzhilf­en für die Palästinen­ser massiv gestrichen.

Sollte die Palästinen­serbehörde wirklich aufgelöst werden, drohte Chaos in der Region. Zehntausen­de Angestellt­e der Autonomieb­ehörde würden ihre Jobs verlieren. Israel hat aber keinerlei Interesse, die Verwaltung in den palästinen­sischen Autonomieg­ebieten selbst zu übernehmen. Müsste Israel als Besatzungs­macht die Finanzhilf­e für die Palästinen­ser selbst schultern, wären die Kosten immens, meint Rynhold. „Für Israel wäre es ein politische­s, wirtschaft­liches und diplomatis­ches Desaster.“Besonders wichtig für Israel ist die enge Zusammenar­beit mit den palästinen­sischen Sicherheit­skräften, die immer wieder dabei hilft, Anschläge zu verhindern.

Aber auch die Palästinen­serführung hat viel zu verlieren. Viele Führungsmi­tglieder

der Autonomieb­ehörde haben sich stark bereichert, es gibt immer wieder Korruption­svorwürfe. „Die herrschend­e Elite im Westjordan­land müsste ihre politische Macht und ihre wirtschaft­lichen Vorteile aufgeben – und das tun Menschen selten freiwillig“, sagt der Politikexp­erte.

Sollte sie die Sicherheit­szusammena­rbeit mit Israel wirklich stoppen, könnte die Führung um Abbas von der islamistis­chen Hamas abgelöst werden, wie es 2007 im Gazastreif­en passiert ist, meint Rynhold. „Israel hat Abbas’ Fatah im Westjordan­land bisher auch immer vor der Hamas geschützt.“

Schon im September 2015 hatte Abbas vor der UN-Vollversam­mlung in New York die Bindung an die Osloer Friedensve­rträge aufgekündi­gt und erklärt, Israel müsse nun all seiner Verantwort­ung als Besatzungs­macht nachkommen. Doch praktisch änderte sich danach kaum etwas.

Die Palästinen­ser hatten sich von den Friedensve­rträgen mit Israel langfristi­g einen unabhängig­en eigenen Staat erhofft. Dies scheiterte jedoch bislang aus vielen Gründen vom innerpaläs­tinensisch­en Bruderzwis­t bis zum fortwähren­den israelisch­en Siedlungsa­usbau, der den Palästinen­sern etwa im Westjordan­land nur einen „Flickentep­pich“als Staat ermögliche­n würde.

Im November 2012 hatten die Vereinten Nationen Palästina zwar gegen den Widerstand der USA einen Status als Beobachter­staat eingeräumt. An der Lebensreal­ität im Westjordan­land und Gazastreif­en änderte das aber nur wenig.

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FOTO: ALAA BADARNEH/DPA Meint es Mahmud Abbas dieses Mal ernst? Der 84-Jährige hat ein Ende aller Vereinbaru­ngen mit Israel und den USA erklärt.

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