Die Sonnenblumen-Fahne weht noch
In ihrem Kleingarten im neuen Baugebiet Haid/Wittwais versucht Erika Kiehlneker die letzten Monate zu genießen
WANGEN - Die Erschließung des neuen Baugebiets zwischen Haid und Wittwais läuft auf Hochtouren. Ausgenommen davon auf dem Areal ist bislang ein Kleingarten am Ende der Oderstraße. Dessen langjährige Pächterin Erika Kiehlneker darf hoffen, dass sie noch einen letzten, schönen Sommer an ihrem geliebten Rückzugsort genießen kann.
„Das gesamte Areal zwischen Haid und Wittwais wird derzeit für ein neues Wohngebiet erschlossen. Das gesamte Areal? Nein!...“
Etwas abgewandelt beginnt so auch der wohl berühmteste ComicProlog der Welt. Und in der Tat: Zumindest der Anblick aus der Vogelperspektive, mit dem durch hohe Tannen abgegrenzten Grundstück am Rande der riesigen Baustellenlandschaft, erinnert doch irgendwie an das gallische Dorf, das sich standhaft gegen die römische Übermacht drumherum zur Wehr setzt. Wobei: Dass Erika Kiehlneker – wie Asterix & Co. – „unbeugsam“wäre und nicht aufhören würde, „dem Eindringling Widerstand zu leisten“, stimmt so
„Die komplette Erschließung kann aber ohne den Kleingarten erfolgen“, sagt Martin Jörg vom städtischen Tiefbauamt. Die betreffenden Grundstücke würden von der Oderstraße aus erschlossen, wo ein bestehender Kanal verlängert werde. Jörg glaubt deshalb, dass der Garten dieses Jahr noch bestehen bleiben könnte. Die erste Bebauung auf dem gesamten Areal hält der Mann vom Tiefbauamt dann im Frühjahr 2021 für realistisch, wie er auch in der Gemeinderatssitzung nicht. Die 80-jährige konnte überhaupt nicht groß protestieren, hat mittlerweile vielleicht auch etwas zähneknirschend akzeptiert, dass es ihr kleines Gartenparadies nicht mehr lange geben wird. Und versucht, die letzten Monate in ihrem geliebten Rückzugsort so gut es geht zu genießen.
Es ist ein sonniger Nachmittag im Mai: Erika Kiehlneker hat es sich in ihrem Kleingarten am Ende der Oderstraße gemütlich gemacht. Sie sitzt vor dem Geräteschuppen, auf dem Tisch stehen zwei Gläser mit Wasser, ein Teller Laugenkringel und eine Vase mit duftenden, frisch gepflückten Maiglöckchen. Die wachsen zu Hunderten im Randbeet an der Brombeerhecke, hinter der gerade ein großer Schaufelbagger vorbei rattert. Sicht- und hörbarer Beleg dafür, dass Wiesen, Felder und am Ende auch der Kleingarten hier in absehbarer Zeit einem neuen Wohngebiet weichen. Wann das genau sein wird, steht noch nicht fest. Zwar ist das Gartengrundstück von der bis Oktober dauernden Erschließung nicht betroffen, doch schon am Jahresende könnte es mit der Bebauung des Areals im Oktober 2019 sagte, als die Arbeiten vergeben wurden. Damals hatte sich auch GOL-Fraktionschef Tilman Schauwecker nach dem Kleingarten erkundigt. Laut der Antwort von OB Michael Lang sei das Grundstück zunächst einmal nicht tangiert, er begründete dies auch mit der Brutzeit der Vögel, die in der mächtigen Hecke nisten würden. Liegenschaftsamtsleiter Armin Bauser kann sich auf SZAnfrage indes vorstellen, dass die ersten Häuslebauer noch Ende 2020 loslegen können. Die Grundstückspreise stünden intern bereits fest, in den kommenden Wochen sollen alle Interessenten angeschrieben werden. Sobald die Vergabekriterien aktualisiert seien, finde die eigentliche Bauplatz
losgehen. So lange wird die Stofffahne mit dem Sonnenblumensymbol, die Kiehlneker letztes Jahr aufgehängt hat, auf jeden Fall noch wehen: „Das ist ein Zeichen, dass ich noch da bin.“
Seit 42 Jahren wohnt die gebürtige Ulmerin schon in Wangen. In ihrer Heimatstadt an der Donau wuchs sie quasi im Garten auf, mit der Gartenarbeit ist sie von Kindesbeinen an vertraut. Seit Anfang der 80erJahre hatte die frühere Hauswirtschaftsleiterin der Wangener Molkereischule in der Nähe des Gottesacker-Kindergartens deshalb ebenfalls einen Kleingarten: „Ich brauchte in der Freizeit etwas zu tun, ein Garten ist bei mir wie eine Sucht.“Als sie jedoch 1995 dort raus musste und sich nach etwas Neuem umschaute, fiel ihr beim Langlaufen bei der Wittwais-Siedlung ein mit Hecken umrandetes, aber wenig gepflegtes Wiesenstück mit einem Schuppen auf. Wie sich damals herausstellte, gehörte es einem Wangener Arzt. Kiehlneker fragte an und durfte das Grundstück ab dem Folgejahr und nach mündlicher Vereinbarung tatsächlich pachten.
Es war das Startsignal für ihr grünes, und für sie fast am wichtigsten: sonniges Stück Paradies. Sie grub den gesamten Grund um, legte einen Gemüse- und Blumengarten an, pflegte die Beerensträucher, ließ den Geräteschuppen umdrehen und ein weiteres Holzhäusle aufstellen. „Plötzlich ist alles zu einem Garten erwacht“, sagt die Wangenerin, die zu jener Zeit, aber auch danach „fast jeden Tag dort verbrachte“. Ihr Motto bis heute: „Es muss immer ordentlich aussehen.“Das gilt noch mehr, nachdem sie 2001 in Rente gegangen war, und so schnitt die Seniorin in den vergangenen Jahren regelmäßig auch ihre mächtige Tannenhecke selbst – bis auf eine Rottanne am Eingang zur Oderstraße. Der stattliche Baum ist heute rund zehn Meter hoch.
Erika Kiehlneker vergabe statt – frühestens im Sommer/Herbst.
Im Zuge der laufenden Erschließung wurde mittlerweile der nördliche Teil der Maria-Catharina-ReichStraße zurückgebaut, die Zufahrt zum Wohngebiet Haid ist seitdem gesperrt. Dies wird wohl bis zum Oktober so bleiben, schätzt Martin Jörg. Erst dann sei auch die neue Zufahrtsstraße zwischen dem Kreisel am Gesundheitszentrum und der Haid befahrbar. Geplant sei zudem, dass auf dem zurückgebauten Abschnitt der Maria-CatharinaReich-Straße zunächst einmal provisorische Parkplätze entstehen. Sollten diese dann nicht mehr benötigt werden, sei auch hier eine Bebauung vorstellbar, entweder für Wohn- oder Gewerbenutzung. (bee)
Die ersten dunklen Wolken zogen für Erika Kiehlneker auf, als die Pläne für ein neues Baugebiet zwischen Haid und Wittwais 2017 publik wurden und sich unter den Anliegern eine Interessengemeinschaft bildete. Ende des Jahres erfuhr die Wangenerin offiziell durch einen Brief von der Stadt, dass diese das Grundstück erworben habe, die Pacht jedoch erlassen werde. „Ich hätte den Garten gerne gekauft, bin aber gar nicht gefragt worden“, so Kiehlneker. Und fragte bei der Verwaltung an, ob diese nicht nach einem Ersatz schauen könnte. In den Folgejahren angebotene Schrebergärten sagten ihr jedoch nicht zu, und andere Möglichkeiten zerschlugen sich.
Als dann vergangenes Jahr noch die offizielle Kündigung auf Ende 2019 ins Haus flatterte, begann für Erika Kiehlneker eine Zeit der Ungewissheit. „Erst hieß es, es pressiert, dann drängte es doch nicht mehr so sehr“, erinnert sich die Wangenerin. „Ich habe nie gewusst, woran ich bin, hatte das Gefühl, ignoriert zu werden, das hat mich sehr gekränkt. Da war ich auch sauer auf die Stadt.“Mittlerweile gehe es ihr wieder besser, „weil ich weiß, dass ich eine Zukunft mit Garten habe“.
Denn: Seit April hat Kiehlneker ein Grundstück in der KleingartenAnlage Argenau bekommen. „Dort bin ich zwar nicht so frei, was ich tue, und es ist schattiger, aber es ist besser als nix.“Seitdem werkelt sie dort jeden Tag, und erholt sich von dieser Gartenarbeit an den Wochenenden in ihrem Refugium an der Oderstraße. Mit 80 Jahren noch zwei Gärten gleichzeitig umtreiben, geht das eigentlich? Erika Kiehlneker, sportliche Figur, sonnengegerbte Haut und kräftige, zupackende Hände, muss grinsen: „Ich hätte gerne, dass ich noch sehr lange im Garten arbeiten kann. Ich denke, ich habe dafür auch gute Gene, meine Mutter war bis zu ihrem 96. Lebensjahr im Garten.“
Und so sitzt sie auch an diesem Mai-Nachmittag an ihrem Lieblingsort. Schaut sich die violetten Iris an, die Akelei und die Kornblumen, freut sich über ihre Beerensträucher, lässt den Blick schweifen über die Pfingstrosen, die Hornveilchen und die Margeriteninseln, die sie auf der gemähten Wiese hat stehen lassen. Und vermisst ein bisschen die Vogelbeere, die sie vor etwa 20 Jahren vor ihrem Garten am Ende der Oderstraße gepflanzt hatte. Den mittlerweile fünf Meter hohen Baum hat die Stadt unlängst entfernt und an die Bushaltestelle beim Gesundheitszentrum umgesetzt, weil an dieser Stelle eine Kanalleitung fürs neue Baugebiet verlegt wird.
Bleiben wird ihr der Garten vielleicht noch bis zum Jahresende, im Idealfall sogar noch etwas darüber hinaus. Für die nach eigener Aussage „sonnenhungrige“Erika Kiehlneker wird es nach 24 Jahren also noch ein letzter Sommer in ihrem Garten-Paradies. Wo sie ihre gärtnerische Freiheit ausleben darf, wo sie wohl auch bald wieder regelmäßig mehr Freunde begrüßen kann, nachdem die geplante Party zu ihrem 80er vor kurzem coronabedingt hat ausfallen müssen. Und vielleicht gibt es ja trotz des ganzen Trennungsschmerzes noch ein kleines Abschiedsfest. Es muss ja nicht gleich – wie immer im letzten Asterix-Bild – eine große Feier mit Wildschweinbraten sein.
„Ein Garten ist bei mir wie eine Sucht.“