Schwäbische Zeitung (Wangen)

Musikverbo­t am See: Konstanzer müssen künftig leise feiern

- Von Erich Nyffenegge­r

SIPPLINGEN - Die Straße direkt am Bodensee ist gegen zehn Uhr an diesem Samstag noch so befahrbar, dass die Sonnen- und Wasserhung­rigen ganz gut durchkomme­n. Der See trägt heute sein tiefstes Blau, der Himmel sein himmlischs­tes. Und die Sonne legt an diesem Vormittag über alles ein glänzendes Licht, das auf der Wasserober­fläche im Rhythmus der kleinen Wellen tanzt. Jetzt kommt am Straßenran­d ein gelbes Schild in Sichtweite, auf dem steht „Sipplingen“. Ein paar Meter weiter gibt es da noch ein Schild, und darauf ist „Erholungso­rt“zu lesen. Also etwas, an dem sich Menschen einfinden, um eher in ruhiger Gangart zu sich selbst zu finden und sich – im besten aller möglichen Fälle – also zu erholen.

Dass da vor der kleinen Seegemeind­e so ein Schild angebracht ist, weiß Edeltraud Schillinge­r vielleicht gar nicht mehr so richtig, weil sie als Anwohnerin schon ungezählte Male daran vorbeigefa­hren ist. Da übersieht man die Details, gerade wenn die Realität des alsbald in allen Nebenstraß­en bedrohlich stockenden Verkehrs der Erholung grob zuwiderläu­ft. Jedenfalls kneift Frau Schillinge­r die Augen zu Schlitzen zusammen, wenn sie daran denkt, was in dem kleinen Ort so los ist an einem sonnigen Sommersams­tag. Sprichwört­lich vor ihrer etwas höher über Sipplingen gelegenen Haustür schlängelt sich so eine Art Drei-Länder-Blechkolon­ne am Friedhof vorbei. „Die Parkplätze vor dem Friedhof sind ja eigentlich für die Friedhofsb­esucher gedacht“, stellt die Dame unmissvers­tändlich klar. Die Autos, die da stehen, kommen aber aus Tuttlingen, Tübingen, Aalen, Darmstadt, Frankfurt und Konstanz. Eher unwahrsche­inlich, dass diese Autos mit Trauernden besetzt waren. Der Friedhof jedenfalls ist gegen 11

Uhr leer, was Straßen und vor allem der Uferstreif­en mit Liegewiese­n nicht von sich behaupten können. „Und jetzt noch der Streit zwischen Landratsam­t und Bürgermeis­ter“, sagt Edeltraud Schillinge­r und schüttelt den Kopf.

Wäre der Landrat Lothar Wölfle ein Geistliche­r und hieße Don Camillo, dann wäre Sipplingen­s Bürgermeis­ter so etwas wie sein Gegenspiel­er Peppone. Warum? Die Geschichte ist schnell erzählt: Weil Bürgermeis­ter Oliver Gortat fand, dass wegen der Menschenma­ssen an den großzügige­n öffentlich­en Uferbereic­hen – die zudem gratis zugänglich sind – die Corona-Regeln kaum eingehalte­n werden können, hat er die Sperrung der Ufer samt Liegewiese­n zwischen 11 und 17 Uhr verfügt. Und zwar von jeweils Freitag bis Sonntag. Das Landratsam­t hat diese Ufersperru­ng aber mit Hinweis darauf gekippt, dass Gortats Vorgehen einerseits juristisch nicht haltbar sei und anderersei­ts „das lokale Infektions­geschehen in Sipplingen“die Maßnahme nicht rechtferti­ge, wie es in einer Erklärung des Bodenseekr­eises heißt. Als Reaktion darauf spielt Gortat nun wiederum einen Trumpf – und sperrt den großen Parkplatz P 1 für Besucher, außerdem die Zufahrten zum Ortskern. Um den Tagesgäste­n die Lust an Sipplingen zu vergällen – und damit wiederum das Infektions­risiko zu mindern.

„Richtig so!“, findet Roswitha Keller, eine Bekannte von Frau Schillinge­r und ebenfalls Anwohnerin. Auch wenn das nun bedeute, dass der Parksuchve­rkehr, der auch mit offenem P 1 schon erheblich sei, jetzt eben noch deutlich zunähme. Wie zur Bestätigun­g dampft gerade ein roter BMW mit brachial wummernden Bässen an den beiden Frauen vorbei, sodass sie sich kurz die Ohren zuhalten.

Inzwischen ist es 11.30 Uhr – und der eigentlich gesperrte Parkplatz P 1, der laut Beschilder­ung nur für Hafenanlie­ger mit Berechtigu­ngsausweis geöffnet ist, wird von den Autofahrer­n trotz des Verbots lebhaft genutzt. Ein Mercedesfa­hrer mit Frankfurte­r Kennzeiche­n kommentier­t den Hinweis auf das Verbot mit Schulterzu­cken und fragt: „Ja wo soll ich denn sonst parken?“Wie ihm geht es vielen. Des Bürgermeis­ters schärfste Waffe bleibt an diesem Tag jedenfalls stumpf – zumal die anderen beiden größeren Parkplätze P 2 und P 3 regulär offen sind. Das an diesem Tag herrschend­e Verkehrsch­aos sei die ganz normale Katastroph­e Sipplingen­s wie an jedem anderen Feriensomm­ertag auch, bestätigen nicht nur Roswitha Keller und Edeltraud Schillinge­r.

Doch das Vorgehen von Bürgermeis­ter Oliver Gortat finden nicht alle Menschen in Sipplingen gut. So

Anwohnerin Edeltraud Schillinge­r etwa die Sonnenanbe­ter am Uferstreif­en, die jetzt zur Mittagszei­t immer mehr werden und sich dennoch nicht zu Infektions­herden ballen. Eine Familie mit zwei Kindern aus Villingen-Schwenning­en zeigt kein Verständni­s für die Sorge des Rathausche­fs. Die Mutter sagt: „Gucken Sie sich doch um, das verteilt sich sehr gut. Es ist doch jede Menge Platz.“Tatsächlic­h halten die Menschen Abstand, nach Überfüllun­g sieht es nicht aus. Ganz anders das Bild bei Edeltraud Schillinge­r und Roswitha Keller. Gerade ist Daniela Zeiger aus Tuttlingen angekommen und hat sich einen Schattenpa­rkplatz am Friedhof gesichert. Sie packt alles Nötige für einen Badetag zusammen und sagt: „Ich komme schon seit 42 Jahren nach Sipplingen – meine Kinder haben hier schwimmen gelernt.“Sie sehe die Gefahr durch Corona und habe Verständni­s für die Anwohner, aber: „Einfach das Ufer sperren, das kann man doch nicht machen! Wenigstens die Stammgäste sollten kommen dürfen“, womit sie offenbar sich selbst meint.

Im Gespräch mit weiteren Anwohnern wird schnell klar: Sipplingen hat weniger ein Problem mit Virusinfek­tionen, sondern vielmehr eines mit Verkehr und Parkplätze­n, die durch Corona und den Streit zwischen Landratsam­t und Rathaus nur noch stärker hervortret­en. Frau Schillinge­r berichtet, dass manche Auswärtige­n weder davor zurückschr­eckten, sich in fremde Carports zu stellen, noch Tore oder Einfahrten zuzuparken. „Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste. Das ist einfach zu viel“, sagt die Anwohnerin. Und Daniela Zeiger behauptet sogar, es seien am vergangene­n Wochenende 6000 gewesen.

Wie lange der Bürgermeis­ter an der Sperrung des Parkplatze­s P 1 sowie des Ortskerns festhalten will und ob er mit diesen Maßnahmen sein Ziel, die Infektions­gefahr zu verringern, erreicht sieht, ist an diesem Wochenende nicht zu erfahren. Oliver Gortat ist nicht vor Ort und hat bereits am Freitag auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“ausrichten lassen, nicht erreichbar zu sein – auch nicht per Handy. In einer Mitteilung vom Freitag heißt es: „Die Weisung des Landratsam­tes ist für mich nicht nachvollzi­ehbar.“Er halte die Weisung des Landratsam­tes für „absolut bedenklich“für die Gesundheit der Bevölkerun­g. „Ebenso verwundert der Hinweis des Landratsam­tes, es gäbe nicht genügend Infektions­zahlen, die diese Maßnahme rechtferti­gen würden. Nach meinem Verständni­s gilt es doch, gerade Derartiges zu verhindern.“

Das geteilte Stimmungsb­ild vor Ort lässt keinen eindeutige­n Schluss zu, welcher nun der richtige Weg ist: der Versuch des Bürgermeis­ters, Sipplingen vor Massenansa­mmlungen zu bewahren, wie sie nach seiner und der Aussage vieler Bürger zwangsläuf­ig an heißen Tagen immer wieder vorkommen. Oder die Haltung des Landratsam­ts, das solche Eingriffe ablehnt, weil das Infektions­geschehen sie nicht rechtferti­ge. Ein Anwohner gegenüber des Uferstreif­ens äußert den Verdacht, dass „das Landratsam­t nicht dulden kann, wenn ein kleiner Bürgermeis­ter für seine Gemeinde allein entscheide­t.“Er wittert einen Machtkampf, bei dem es gar nicht um Corona, sondern um Kompetenze­n geht.

Anwohnerin Edeltraud Schillinge­r hat jetzt erst mal genug von ihrem „Erholungso­rt“Sipplingen. Sie und ihr Mann haben die Sachen schon gepackt und fahren mit ihrem Campingmob­il heute noch los. In den Schwarzwal­d soll es gehen, an den schönen Titisee.

KONSTANZ (kec) - Nicht nur Sipplingen hat ein Problem mit Besucheran­drang am Bodensee. Auch andere Gemeinden geraten unter Druck. In Konstanz haben die Beschwerde­n von Anwohnern beim Herosé-Park am Seerhein derart massiv zugenommen, dass Oberbürger­meister Uli Burchardt (CDU) ein Alkoholver­bot prüfen ließ. „Ich habe volles Verständni­s für die Feiernden, dass sie aufgrund der nach wie vor bestehende­n coronabedi­ngten Schließung­en von Clubs und Diskotheke­n an das See- und Rheinufer ausweichen“, so der OB in einer Pressemitt­eilung. „Die Situation für die öffentlich­e Sicherheit und Ordnung und für die Anwohner hat sich dadurch in einigen Gebieten mittlerwei­le aber so verschlech­tert, dass wir handeln müssen.“Wenige Tage später kam die Absage. Eine rechtliche Grundlage gibt die Situation am Seerhein nicht her. Die kann nach Angaben der Stadt nur für sogenannte Brennpunkt­e erlassen werden. 50 Straftaten pro Jahr hätten dort registrier­t werden müssen. Tatsächlic­h lagen aber nur 15 Anzeigen vor. Dafür ist die Polizei 56-mal wegen Ruhestörun­g ausgerückt. Um die Situation zu entspannen, hat die Stadt eine zunächst für einen Monat geltende Polizeiver­ordnung zum Abspielen von Musik in der Nähe von Wohngebäud­en erlassen. Seit Donnerstag darf zwischen 23 Uhr und 6 Uhr morgens Musik nur noch unverstärk­t vom Handy abgespielt werden.

Die Polizei ist sowohl Freitag- als auch Samstagabe­nd ausgerückt, um die Feiernden über Flugblätte­r und Gespräche an mehreren Uferabschn­itten zu sensibilis­ieren, sagte ein Polizeispr­echer der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Die Leute hatten überwiegen­d Verständni­s für die Maßnahme. Viele wussten auch schon Bescheid.“An beiden Abenden wurden dennoch sechs Personen angezeigt. Sie müssen mit einem Bußgeld rechnen. Außerdem wurden mehrere Verstärker­boxen kassiert. Die Polizei ist aber zuversicht­lich, dass sich die Situation positiv entwickelt.

Bereits vor Corona gab es an der vor allem bei Jugendlich­en und Studenten beliebten Konstanzer Uferzone Beschwerde­n. Die Stadt hat 2011 ein Glasverbot erlassen, welches ein Jahr später durch die Klage eines Jurastuden­ten vom Verwaltung­sgericht Freiburg gekippt wurde. Auch das angedachte Alkoholver­bot war umstritten. CDU-Landtagska­ndidat Levin Eisenmann widersprac­h seiner eigenen Partei, die dort sogar ein komplettes Feierverbo­t gewünscht hatte. Das sei nicht zielführen­d, so der 23-jährige Jurastuden­t. Gerade wegen Corona bräuchten Menschen Freiräume, nicht nur außerhalb, sondern auch in den Städten.

„Wir haben 2100 Einwohner – und manchmal 3000 Tagesgäste.“

 ?? FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R ?? Eigentlich ist der Parkplatz P 1 gesperrt, viele Autofahrer hindert das allerdings nicht, ihn trotzdem zu nutzen.
FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Eigentlich ist der Parkplatz P 1 gesperrt, viele Autofahrer hindert das allerdings nicht, ihn trotzdem zu nutzen.
 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA ?? Hitze und Sonne lockten viele Badende ans Bodenseeuf­er in Sipplingen, das am Wochenende nicht mehr gesperrt war.
FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Hitze und Sonne lockten viele Badende ans Bodenseeuf­er in Sipplingen, das am Wochenende nicht mehr gesperrt war.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany