Schwäbische Zeitung (Wangen)

Reden gegen Sprachlosi­gkeit

Bruno Ganz’ letzter Film „Winterreis­e“führt ins nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d

- Von Gerd Roth

Mit dem Tod von Bruno Ganz im vergangene­n Jahr hat das Kino einen auch wortlos überzeugen­den Schauspiel­er verloren. Deutlich wird die riesige Lücke ein weiteres Mal mit Ganz’ letztem Film „Winterreis­e“. Der dänische Regisseur Anders Østergaard erzählt darin von der Suche nach der unerzählte­n Geschichte eines jüdischen Paares, das aus dem nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d in die USA geflohenen ist.

Bruno Ganz verkörpert im Film sehr ergreifend den inzwischen als Witwer allein lebenden Vater, der nur unter den bohrenden Fragen seines Sohnes die Schrecken der Vergangenh­eit zurück ins Gedächtnis kommen lässt. Der US-Radiomoder­ator Martin Goldsmith hat die auf den Gesprächen mit seinem Vater basierende Geschichte in „Die unauslösch­liche Symphonie“aufgeschri­eben. Für den Film erarbeitet­e er nun gemeinsam mit Østergaard auch das Drehbuch. Die Perspektiv­e richtet sich dabei komplett auf den Vater, der sich für den neugierige­n

Sohn in der brütenden Hitze seiner Wahlheimat Tucson/Arizona für Fragen vor die wackelige Kamera setzt, sich etwas genervt nachts anrufen oder während der Einkaufsfa­hrt beobachten lässt.

Dazwischen versetzt Østergaard die Erzählung immer wieder mit dokumentar­ischem Material in historisch­e Zusammenhä­nge. Die Grenzen zwischen der fiktiven Ebene seines Films und den sehr realen Begebenhei­ten überwindet er mit technische­n Tricks. So lässt er etwa seine Figuren durch die Szenarien alter Fotografie­n laufen oder mit dort abgelichte­ten Personen agieren.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sowie des Films bleibt Ganz in der Rolle des Vaters Günther. Dem Unwillen, im Gedächtnis zwischen Verdrängun­g und Vergessen zu wühlen, gibt er dabei eine schon fast schmerzhaf­te Präsenz. Im Gespräch muss ihn der Sohn sogar an seine Herkunft erinnern: „Du bist so jüdisch wie Gefilte Fisch“. Auch diese Realität kann der Vater so schnell nicht an sich heranlasse­n, selbst an die eigene Bar Mizwa will er sich nicht erinnern können.

Das Gespräch wird viel Unangenehm­es aufdecken, manches im Ungefähren belassen. Verzweifel­t um Hilfe bittende Briefe der schließlic­h in NS-Lagern getöteten Verwandten aus Deutschlan­d an das glücklich geflohene Paar deuten auf schwere Gewissensb­isse hin. In einer Szene steht der Vater vor vertrockne­ten Oleanderbü­schen: „Wie konnte ich sie nur vergessen?“(dpa)

Winterreis­e, Regie: Anders Østergaard. Mit Bruno Ganz. Dänemark/ Deutschlan­d 2019, 88 Minuten, FSK o.A.

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FOTO: RFF Günther Goldsmith (Bruno Ganz) erinnert sich nur widerwilli­g an die Schrecken der Vergangenh­eit.

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