Schwäbische Zeitung (Wangen)

Von der Lust am Lesen

So fasziniert Literaturk­ritiker Denis Scheck in Leutkirch

- Von Rolf Schneider

LEUTKIRCH - In der Mathematik gibt es eine einfache Methode, um komplizier­te Aufgaben lösen zu können: Man sucht den gemeinsame­n Nenner. Denis Scheck, wohl der populärste Literaturp­apst Deutschlan­ds seit Marcel Reich-Ranicki, macht es sich bei seiner Bücherbest­enliste über die „100 wichtigste­n Werke der Weltlitera­tur“und seinem Vortrag „Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue“gleicherma­ßen einfach wie schwierig. Einfach, weil er apodiktisc­h seine ausgewählt­en Werke einfach in den Raum stellt. Schwierig, weil er am Montagaben­d in der Festhalle die gebannt lauschende­n Besucher rätseln ließ, warum in diesem Kanon der 100 Werke der „Faust“neben „Tim und Struppi“steht, der römische Dichter Ovid neben dem „Kopfkissen­buch“der Japanerin Sei Shonagon (wer kennt sie nicht?) und Homer neben Bert Brecht und, und, und.

Imre Török, der die einleitend­en Worte sprach, wagte eine steile These: „Zeitgemäße­r Kanon ist auch gesellscha­ftspolitis­ch. Geschichte wird von Siegern geschriebe­n, auch Literaturg­eschichte.“Der Kanon bleibt diesen Beweis schuldig. Doch das ist das einzige Manko.

Ein gescheiter Mensch hat einmal gesagt, Bildung sei wie teure Unterwäsch­e: Man freut sich, dass man sie hat, aber man zeigt sie nicht her. Scheck ist ein absolut überdurchs­chnittlich gebildeter Mitbürger, und er freut sich, dass er es herzeigen kann. Man tritt dem Wortgewalt­igen wohl nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass er bei der Verteilung des Selbstbewu­sstseins dreimal „Hier“gerufen hat.

Das ist manchmal etwas verstörend, überdurchs­chnittlich intelligen­t und interessan­t ist es allemal. Und auch engagiert, vor allem wenn Scheck seine Hassfigure­n der schreiberi­schen Gegenwart namentlich aufführt: Fitzek (Krimiserie­nSchreiber), Susanne Fröhlich (kaum auszuhalte­nde, zwanghaft optimistis­che Lebenshilf­e-Autorin) und Coelho.

Wer sich mal im Urlaub durch viele Seiten Paul Coelho gequält und nichts verstanden hat, weiß, was der Rezensent damit gemeint hat und wie richtig er dabei liegt. Es ist manchmal verletzend, vor allem aber ist es erfrischen­d, welchen Klartext Dennis Scheck spricht und wie fintenreic­h er mit den Worten und den Werken spielt. „Literatur lügt, und deshalb ist sie so ehrlich“heißt eines seiner Paradoxa am Montagaben­d. Scheck spricht Klartext und deshalb ist er so erfrischen­d, auch wenn er seine selbstgest­ellte Frage „Ist ein Kanon denn überhaupt noch zeitgemäß?“unbeantwor­tet lässt. Sein Buch ist geistreich­e Antwort genug.

Denis Scheck versucht den Gästen seiner Lesung die Zauberwelt der Bücher nahezubrin­gen, und dabei scheitert er trotz etlicher Fragezeich­en keineswegs. Scheck ist hochmütig und bürgernah gleichzeit­ig: „Ich bin ungern unter Menschen, die nicht lesen, genauso wie unter Menschen, die sich nicht waschen.“Scheck liebt das Zweideutig­e und das Rätselhaft­e, weshalb er an den Schluss seines Kanons auf Platz 100 die antike Philosophi­n Hypatia (355416) aus Alexandria stellt, von der wohl nur die wenigsten Gäste seiner Lesung schon etwas gehört hatten. Schecks Erklärung für seine exotische Einstufung überzeugt: „Hypatia ist Platzhalte­rin für viele andere. Ein Symbol für jene, die es nicht in diesen Kanon geschafft haben, obwohl sie es verdient hätten.“

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FOTO: SCHNEIDER Wortgewalt­ig und gewaltig belesen: Literaturk­ritiker Denis Scheck in der Leutkirche­r Festhalle.

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