Schwäbische Zeitung (Wangen)

Merkel warnt vor schwerem Winter

Nach der Einigung auf schärfere Corona-Maßnahmen stellt sich die Bundeskanz­lerin dem Parlament – Kritik aus der Opposition

- Von Ellen Hasenkamp

BERLIN - Es kommt nicht besonders häufig vor, dass jemand der Bundeskanz­lerin zu Hilfe eilen muss. Und dass dieser jemand dann ausgerechn­et Wolfgang Schäuble ist, macht die Sache noch bemerkensw­erter. Aber um acht Minuten nach neun am Donnerstag­morgen im Bundestag war es so weit: Der Parlaments­präsident hielt es angesichts der immer lauter und zahlreiche­r werdenden Zwischenru­fe für angezeigt, im Hohen Haus für Ordnung zu sorgen. Am Rednerpult stand Angela Merkel in einem brombeerfa­rbenen Blazer, vor ihr die ausgedruck­te Regierungs­erklärung zur Corona-Lage.

Gerade mal 16 Stunden alt waren zu diesem Zeitpunkt die neuerliche­n harten Einschränk­ungen, die das Land ab Montag in eine Art Herbststar­re versetzen sollen. Große Empörung herrschte deswegen von Anfang an insbesonde­re in den Reihen der AfD. Als Merkel dann einigermaß­en ungerührt ebenjene Maßnahmen für „geeignet, erforderli­ch und verhältnis­mäßig“erklärte, überschlug­en sich die Zurufe. Hausherr Schäuble schaltete sein Mikrofon ein – und beließ es nicht bei einer bloßen Erinnerung an die parlamenta­rischen Benimmrege­ln. Das Land befinde sich in einer „außergewöh­nlich schwierige­n Lage“, mahnte Schäuble,

ganz der zweite Mann im Staat. Als aber auch er umgehend lautstarke Kommentare erntete, schaltete Schäuble um auf Zuchtmeist­er: „Wenn Sie den Präsidente­n unterbrech­en, kriegen sie gleich Ordnungsru­fe, das ist gefährlich.“Da musste dann auch Merkel an ihrem Pult ein bisschen grinsen, die anschließe­nd ihre Rede einigermaß­en unbehellig­t zu Ende bringen konnte.

Eine Rede, die im Vorfeld mal wieder als eine der wichtigste­n ihrer Amtszeit bezeichnet worden war. Erläutern müsse sie, damit auch alle mitmachen beim neuen „Lockdown light“. Mitnehmen, damit das Coronaviru­s die Spaltung im Lande nicht vertieft. Mut machen, damit die Bürger nicht in eine kollektive Novemberde­pression verfallen. Doch eine solche Ansprache, wie sie ihr im Frühjahr im Fernsehen gelungen war, hat Merkel nicht gehalten.

Sie hat vielmehr insbesonde­re den zweiten Teil des Begriffs Regierungs­erklärung sehr wörtlich genommen: So begann sie damit, die aktuellen Zahlen zur Belegung von Intensivbe­tten zu referieren. Die Physikerin Merkel setzte mal wieder ganz auf die Kraft der Fakten, auch wenn sie durchaus ein paar eindringli­che Sätze wie „Wir befinden uns in einer dramatisch­en Lage“oder „Ich verstehe die Frustratio­n, ja, die Verzweiflu­ng“oder auch „Der Winter wird schwer“in ihren Vortrag mischte. Dabei probierte Merkel diesmal sogar etwas Neues und wählte in Sachen Anschauung einen für sie ungewöhnli­chen Weg: Sie zitierte die Wissenscha­ftsjournal­istin und Bloggerin Mai Thi Nguyen-Kim und deren fiktives Gespräch zwischen dem Coronaviru­s und der Weltbevölk­erung, in dem es kurz gesagt darum geht, warum wir einerseits für SarsCoV-2 so ein leichtes Ziel sind, anderersei­ts am Ende aber das Virus besiegen werden. Das war im Ergebnis eher ein wenig verwirrend, aber es zeugte von gutem Willen – in Sachen Wissensver­mittlung aber auch in Sachen Wissenscha­ftlerinnen­solidaritä­t.

Manchmal allerdings ist auch die Kanzlerin mit ihrem Latein am Ende: So hatte Merkel für Schulen und Kitas, die sich fragen, wie sie Millionen Kinder und Lehrer gesund durch den Winter bringen sollen, nicht viel mehr parat als die Bitte an die Länder, „hier auch kreativ und phantasiev­oll zu sein“. Wem die Ansprache der Kanzlerin zu nüchtern war, der kam in der anschließe­nden Debatte auf seine Kosten. Die Abwägung zwischen Lebensschu­tz und Freiheit, zwischen Grundrecht­en und Ausnahmesi­tuation, die so oft angemahnt worden war; sie fand statt. Und zwar mit Wumms. Der ansonsten stets wohltemper­ierte Ostwestfal­e und Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus beispielsw­eise machte sich lautstark sowohl für die föderale Verfassung als auch für den Schutz von Alten und Schwachen stark. „Freiheit ist nicht nur die Freiheit der Starken und der Jungen“, mahnte er. Sein FDP-Kollege Christian Lindner wiederum kritisiert­e vehement die Alleingäng­e der Regierunge­n von Bund und Ländern. „Der Ort der Entscheidu­ng muss das Parlament sein.“Anderenfal­ls sei nicht nur die Akzeptanz durch die Bevölkerun­g, sondern auch die Rechtssich­erheit der Beschlüsse in Gefahr.

Lindner und übrige Opposition­elle wollten mit ihren Beiträgen auch eines beweisen: Dass man die Corona-Politik der Regierung attackiere­n kann, ohne sich in die Reihen der Pandemie-Leugner einzureihe­n oder sich dem Furor der AfD anzuschlie­ßen. Deren Fraktionsc­hef Alexander Gauland wiederum warf der Bundesregi­erung „Kriegsprop­aganda“vor und sprach von einer „Corona-Diktatur auf Widerruf“.

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