Schwäbische Zeitung (Wangen)

Intensivme­dizin hofft auf Corona-Bremse

- Von den Einschränk­ungen der Bundesregi­erung verspreche­n sich Ärzte eine Entlastung Von Ulrike von Leszczynsk­i und Sascha Meyer

BERLIN (dpa) - In Deutschlan­ds Intensivst­ationen wachsen angesichts der rasant steigenden Corona-Infektions­zahlen die Sorgen – denn eine größere Welle schlägt auch in die Kliniken durch. „Es ist jetzt schon nachweisli­ch schlimmer als im Frühjahr“, sagt Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI). „In 14 Tagen haben wir die schweren Krankheits­fälle, und unsere großen Zentren kommen unter Maximalbel­astung.“Auch um kritische Zustände in den Kliniken abzuwenden, wollen Bund und Länder mit einem Teil-Lockdown gegensteue­rn. Intensivme­diziner hoffen auf rechtzeiti­ge Entlastung.

Die Beschlüsse von Bund und Ländern seien sehr sinnvoll, sagte der Chefarzt der Infektiolo­gie in der München Klinik Schwabing, Clemens Wendtner, am Donnerstag in Berlin. Mit einer gewissen Bremsspur seien hoffentlic­h sehr bald positive Effekte zu sehen, die ermöglicht­en, dass das Gesundheit­ssystem weiterhin funktionie­re. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpr­äsidenten hatten am Mittwoch die einschneid­endsten Maßnahmen seit dem großen Lockdown im Frühjahr beschlosse­n. Ab Montag sollen etwa Restaurant­s, Kinos und Theater für den ganzen Monat November schließen. Dies soll die Virus-Ausbreitun­g bremsen. Merkel sagte am Donnerstag, eine Dynamik wie jetzt drohte die Intensivme­dizin sonst in wenigen Wochen zu überforder­n.

In vielen Kliniken, die mit Spezialist­en und Beatmungsg­eräten bei schweren Corona-Fällen gefragt sind, ist eine Verschärfu­ng spürbar. In Berlin, Bayern und NordrheinW­estfalen seien einige Kliniken schon gut mit Covid-19-Patienten belegt, andere Erkrankte würden bereits verdrängt, sagte Stefan Kluge, Leiter der Intensivme­dizin am Universitä­tsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Lage sei „absolut besorgnise­rregend“. Von den Infizierte­n müssten etwa fünf Prozent im Krankenhau­s behandelt werden, zwei Prozent auf der Intensivst­ation, so Kluge. Über 70-Jährige hätten ein Todesrisik­o von über 50 Prozent.

Dabei ist die Lage regional unterschie­dlich, wie Janssens erläuterte. So seien in Schleswig-Holstein 40,7 Prozent der Intensivbe­tten frei, in Hessen 18,7 Prozent, in Berlin aber nur noch 13,7 Prozent. In der Hauptstadt habe die Belegung kräftig angezogen, sagte der Direktor der Medizinisc­hen Klinik mit Schwerpunk­t Infektiolo­gie und Pneumologi­e der Charité, Norbert Suttorp. 440 Corona-Patienten seien auf Normalstat­ionen und 160 auf Intensiv – mehr als etwa im April. Dabei seien Intensivst­ationen im Winter ohnehin meist voll belegt. Janssens erläuterte, Kliniken müssten sich jetzt bereits fragen, bei welchen Patienten sie vereinbart­e Operatione­n guten Gewissens verschiebe­n könnten. Die Devise könne nur lauten: „Fahrt runter!“.

Das Problem ist dabei nicht so sehr die Anzahl der Intensivbe­tten. „Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsg­eräte als zu Beginn der Pandemie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Personal“, sagte Janssens der dpa. „Bis jetzt sind wir zurechtgek­ommen. Aber wir müssen die Pflegepers­onal-Untergrenz­en wieder aussetzen, wenn das so weitergeht.“Seine Vereinigun­g führt ein Register, das die bundesweit freien Intensivbe­tten anzeigt. Damit soll auch eine Verlegung aus stark ausgelaste­ten Kliniken in Häuser mit Kapazitäte­n ermöglicht werden. Die Zahlen werden täglich aktualisie­rt. Die Intensivbe­tten sollen dabei mit dem nötigen Pflegepers­onal berechnet werden.

Doch der einhellige Tenor aus vielen Uni-Kliniken lautet Janssens zufolge schon: Es gibt mehr Infektione­n

unter Klinik-Mitarbeite­rn. „Wir haben im März und April kaum Infektione­n gehabt, die jemand von draußen hereingetr­agen hat“, erläutert er. „Jetzt haben wir in kürzester Zeit Mitarbeite­r, die positiv sind. Sie sind sofort raus.“Andere hätten engen Kontakt zu positiv Getesteten gehabt. „Die sind dann auch noch weg.“Das Schichtsys­tem auf Intensivst­ationen könne damit schnell aus den Fugen geraten. Ein beatmeter Covid-19-Patient braucht allein bis zu fünf Schwestern oder Pfleger.

Vor einem Personal-Notstand hatte bereits die Deutsche Gesellscha­ft für Fachkranke­npflege gewarnt. „Wenn es zu einem massiven Anstieg von Corona-Patienten in den Intensivst­ationen kommt, werden nicht alle fachgerech­t betreut werden können.“Nicht, weil es an Intensivbe­tten mangele, sondern an qualifizie­rtem Fachpflege­personal.

„Wir richten unseren Aufruf auch an alle Mitarbeite­r im Krankenhau­s: „Leute, ihr seid systemrele­vant. Auch, wenn ihr das Krankenhau­s verlasst““, berichtet Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internisti­sche Intensivme­dizin am St.-Antonius-Hospital im nordrhein-westfälisc­hen Eschweiler. Da sei eine Party einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Er selbst sei großer Opern- und Theaterfan. „Ich vermisse das wahnsinnig“, ergänzte Janssens.

„Aber ich sehe es als gesellscha­ftliche Aufgabe und Verpflicht­ung an, mich da zurückzuha­lten. Damit schütze ich viele, viele andere.“

Er sei nicht sauer, er sei vielmehr traurig über die Entwicklun­g der Infektions­zahlen. „Der persönlich­e Spaß ist vielen wichtiger als die Gemeinscha­ft“, urteilt Janssens. Die momentane Lage habe seiner Ansicht nach viel mit einer egoistisch­en Grundhaltu­ng zu tun. „Wenn die Leute mehr „du“denken würden, liefe es sicher besser. Ich sage gern: Kommt doch mal eine Stunde auf die Intensivst­ation und guckt euch einen Covid-19-Patienten an. Wie er da auf dem Bauch liegt und was die Schwestern da leisten müssen.“

Ein Blick auf die derzeit nur langsam steigende Zahl der Todesopfer tauge nicht zur Einschätzu­ng der aktuellen Lage, sagte Kluge aus Hamburg. „Wir müssen auf die Zahl der Intensivpa­tienten gucken. Dann wissen wir, wohin die Reise geht.“Derzeit gehe die Kurve steil nach oben. Es dauere im Schnitt zehn Tage, bis Patienten mit Symptomen auf die Intensivst­ation verlegt werden müssten. Die Aufenthalt­sdauer auf der Intensivst­ation bei beatmeten Patienten betrage zwei bis drei Wochen. Das bedeute, dass sich die Zahl der Neuinfekti­onen erst mit einer Verzögerun­g von drei bis vier Wochen auf Todesfälle auswirke.

 ?? FOTO: AXEL HEIMKEN/DPA ?? Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivme­dizin des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf, hält die rasante Zunahme der Corona-Infektione­n für sehr besorgnise­rregend.
FOTO: AXEL HEIMKEN/DPA Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivme­dizin des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf, hält die rasante Zunahme der Corona-Infektione­n für sehr besorgnise­rregend.

Newspapers in German

Newspapers from Germany