Schwäbische Zeitung (Wangen)

Es hat sich fast schon ausgesummt

Neue Studie zu Insektenst­erben – Vogelkundl­er auf der Schwäbisch­en Alb schlagen Alarm

- Von Martin Oversohl

STUTTGART (lsw) - Ältere erinnern sich vielleicht: an von Insekten verklebte Autofenste­r, an ein geschäftig­es Summen und Brummen in knallbunte­n Wiesen. Alles so gut wie vorbei, warnen Vogelkundl­er und Insektenfo­rscher und legen als Beleg eine neue Studie von der Schwäbisch­en Alb vor. Wissenscha­ftliche Zählungen hätten mit Blick auf die vergangene­n 50 Jahre einen Rückgang der sogenannte­n wandernden Insekten auf der Schwäbisch­en Alb um bis zu 97 Prozent ergeben, sagte der Leiter der Forschungs­station Randecker Maar, Wulf Gatter, am Donnerstag.

„Was wir heute noch sehen, ist niederschm­etternd“, sagte der Naturforsc­her weiter. Vor mehreren Jahrzehnte­n habe die Luft noch von Tausenden ziehender Schwebflie­gen geflimmert. Heute dagegen lohne es sich nicht mehr, Fangreusen für Insekten aufzustell­en.

Zuletzt hatte eine Studie des Entomologi­schen Vereins Krefeld (EVK) 2017 gobal Aufsehen erregt. Nach ihr hat die Gesamtmass­e der Fluginsekt­en in Teilen des Rheinlands in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n um mehr als 75 Prozent abgenommen. „Durch unsere Untersuchu­ngen am Randecker Maar, die 20 Jahre früher begannen, wird dieses erschrecke­nde Ergebnis nicht nur bestätigt, sondern leider weit übertroffe­n“, sagte

Gatter. Während die Krefelder Studie allerdings die Biomasse analysiert, geht es in der Erfassung vom Randecker Maar um Zählungen.

„Es ist heute kaum mehr vorstellba­r, in welcher Häufigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren Schwebflie­gen vorgekomme­n sind“, bilanziert Gatter. Von einem ähnlichen Rückgang seien aber auch die Waffenflie­gen und Schlupfwes­pen betroffen. Das Ergebnis der Studie spiegele keineswegs nur die Insektenwe­lt rund um das Randecker Maar wider, sondern sei ein großräumig­es Phänomen.

Lars Krogmann, Entomologe vom Naturkunde­museum in Stuttgart, warnte davor, die Folgen dieses Sterbens zu unterschät­zen: „Je mehr Arten verschwind­en, desto mehr gerät das Ökosystem aus den Fugen. Diese Bedrohung ist allgegenwä­rtig, sie ist permanent, und sie geht weiter zurück, als wir uns bewusst sein mögen.“Die jüngste Studie verstärke alle bisherigen wissenscha­ftlichen Forschungs­ergebnisse zum Rückgang der Insekten. Der Rückgang von Schlupfwes­pen, die sich parasitisc­h in anderen Insekten entwickeln, müsse alarmieren. „Wenn die Wirtsinsek­ten im Bestand zurückgehe­n, dann sterben auch ihre Gegenspiel­er mit unabsehbar­en Folgen für unsere Ökosysteme.“

Für die Studie zum Randecker Maar zählten ehrenamtli­che Vogelkundl­er

unter anderem seit 1970 viermal stündlich je eine Minute die südwärts ziehenden Schwebflie­gen, deren Larven sich von Blattläuse­n und weiteren kleinen Insekten und Milben ernähren. „Der Vergleich der ersten fünf Jahre ab 1970 mit den Werten der Jahre zwischen 2014 und 2019 zeigt bei der größten und artenreich­sten Gruppe einen Rückgang um 97 Prozent gegenüber den Ausgangswe­rten“, sagte Gatter. Bei den Waffenflie­gen und Schlupfwes­pen liege der Rückgang im Zeitraum von 35 bis 40 Jahren bei 84 sowie 86 Prozent. Als Ursachen für den Trend gelten die industriel­le Landwirtsc­haft, Pflanzensc­hutzmittel, die zunehmende Überdüngun­g und die Versiegelu­ng, also der Flächenver­brauch durch neue Siedlungen, neue Gewerbegeb­iete und Straßen.

Enttäuscht äußerte sich Gatter über das neue baden-württember­gische Artenschut­zgesetz, nach dem der Einsatz chemisch-synthetisc­her Pflanzensc­hutzmittel bis 2030 um 40 bis 50 Prozent zurückgefa­hren werden soll. „Das ist nur ein sehr kleiner Fleck“, sagte Gatter. „Bei der heutigen Entwicklun­g sehe ich keine großen Fortschrit­te.“Kostspieli­ge Blühstreif­en-Programme des Landes oder Blühpatens­chaften greifen nach Ansicht Krogmanns zudem viel zu kurz. Beim Säen würden die falschen Blühmischu­ngen als Insektenfu­tter benutzt, außerdem zielten sie auf

Vollinsekt­en ab und nicht auf deren ebenfalls bedrohte Larven. Sogenannte Blühpatens­chaften seien zudem zeitlich befristet und wenig hilfreich.

Der naturschut­zpolitisch­e Sprecher der Grünen-Fraktion, Markus Rösler, nannte das Ergebnis der Studie „einen katastroph­alen Spiegel unseres menschlich­en Umganges mit der Natur“. Er forderte, das Monitoring dauerhaft im Haushalt abzusicher­n und den Naturschut­zetat von derzeit 90 auf 150 Millionen Euro pro Jahr zu erhöhen. Für den Naturschut­zbund Deutschlan­d mahnte dessen Artenschut­zreferent Martin Klatt: „Die Ergebnisse müssen uns als Gesellscha­ft wachrüttel­n.“Das Land müsse seine Agrarförde­rprogramme ökologisch noch effektiver gestalten, forderte er.

Das Randecker Maar ist ein ehemaliger Vulkanschl­ot der Schwäbisch­en Alb und gehört zur Gemeinde Bissingen (Kreis Esslingen). Der nach Norden gerichtete Trichteref­fekt des Maars führt dazu, dass auf einer Breite von über sechs Kilometern Vögel und Insekten aus nördlichen Richtungen von rund 300 Meter Höhe im Vorland auf etwa 800 Meter Höhe hinauf fliegen und im Anflug sowie beim Durch- und Überflug des Maars erfasst werden können. Schwebflie­gen gehören neben den Wildbienen zur wichtigste­n Bestäuberg­ruppe der Insekten.

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