Schwäbische Zeitung (Wangen)

Nie war es so wertvoll wie heute

In Corona-Zeiten gewinnt das Eigenheim an Attraktivi­tät

- Von Reinhold Mann

Häuser des Jahres 2020: Der neue Band dieser Buchreihe porträtier­t 50 Einfamilie­nhäuser. Er kommt zum idealen Zeitpunkt. Nachdem im Lockdown privater Wohnraum mit größter Selbstvers­tändlichke­it und ohne Beschwörun­g von Bürokratie-Monstern als Arbeitspla­tz requiriert wurde, soll nun, unter scharfem Protest, das Homeoffice zum zweitägige­n Bürgerrech­t erklärt werden. Nirgends gelingt diese raumgreife­nde Konversion umstandslo­ser als im Eigenheim, und je größer es ist, desto besser. Bislang war das Arbeitszim­mer das rote Tuch fürs Finanzamt, das einem Theaterkri­tiker das Recht auf seinen Schreibtis­ch absprach: Er könne ja im Theater schreiben. Und das Einfamilie­nhaus gar, von Bausparkas­sen als „Wohnglück“beworben, ist das klassische Hass-Objekt diverser Gesellscha­ftsideolog­ien, die das Heil der Welt in der Wohnmaschi­ne oder im Zellenbau mit Fernheizun­g sahen. Für sie war die HäusleBaue­rei eine antimodern­e Gegenwelt. Jetzt aber, zu Corona-Zeiten, ist das Haus plötzlich die feste Burg. „Nie war es so wertvoll wie heute“– mit dem Slogan des Melissenge­ists bringt die Journalist­in Katharina Matzig im Vorwort des neuen Buches die Situation auf den Punkt.

Banale Dinge wie Fenster zum Öffnen werden zur Grundlage von Versammlun­gsfreiheit und Infektions­abwehr. Und das Gebot von Social Distancing macht den bislang stets kritisiert­en Flächenver­brauch zur Überlebens­strategie. Architektu­r ist Gesellscha­ftskunst. Und wir erleben gerade eine Umwertung der Werte: Das Eigenheim ist obenauf.

In diesem Rahmen präsentier­t sich der Band 2020 des Architektu­rbuchKlass­ikers als eine der interessan­testen Ausgaben der letzten Jahre. Nicht weil die neuen Häuser Homeoffice­s hätten, sondern weil das Buch von ungewohnte­r Breite ist. Zwar gibt es den üblichen Aufgalopp derjenigen Architekte­n, die in dieser Reihe immer wieder auftauchen. Aber bei Baukosten,

Bauaufgabe­n, Wohnraumgr­öße, beim Verhältnis von Neubau und Umbau, selbst bei der regionalen Streuung der vorgestell­ten Häuser geht die Schere weit auseinande­r. Vor zehn Jahren hatte man noch den Eindruck, um die Jury in Bann zu schlagen, genüge es, in Vorarlberg einen Fensterrah­men aufzustell­en, der Berg, Wald und Wiese zur schönen Aussicht arrangiert. Jetzt tauchen sogar Häuser auf, deren Ausblick nur bis zum Jägerzaun des Nachbarn reicht.

Anderersei­ts dokumentie­rt der Band auch, dass der Vorarlberg­er Baustil, dessen Schlichthe­it sich aus Nachbarsch­aftshilfe, Material-Sparsamkei­t und einer an den Zisterzien­sern geschulten Klar- wie Kargheit entwickelt hat, beim Überspring­en der Landesgren­ze zum Luxus-Label geworden ist.

Mit der Vergabe des 1. Preises setzt die Jury diesmal den Akzent auf die Bautechnik: auf die Kombinatio­n von Holzbau und Stahlskele­tt. Die Hybrid-Bauweise macht ein filigranes Tragwerk mit großen Spannweite­n möglich. Und Räume, die ohne feste Trennwände flexibel nutzbar sind. Das Homeoffice kann kommen.

Das prämierte Projekt (Bild 2), von Kölner Architekte­n im Bergischen Land errichtet, wird im Buch als „Langhaus“gefeiert, weil die Form an die Polynesien-Abteilung im Völkermuse­um erinnert. Der Unterschie­d ist die Transparen­z. Die Durchsicht fordert den Bewohnern Mut zur Selbstdars­tellung ab. Das Haus ist an den Längsseite­n bis ans Satteldach verglast. Es ähnelt hierzuland­e dem verblieben­en Ausstellun­gsraum des örtlichen Autohändle­rs, bevor er ins Industrieg­ebiet verzogen ist.

Der eigensinni­gste Entwurf (Bild 3) kommt, bereits internatio­nal belobigt, aus der französisc­hsprachige­n Schweiz: Architektu­r mit philosophi­schem Überbau – ein handfester Kommentar zur inneren Widersprüc­hlichkeit in unserem Verhältnis zur Natur. Das Erschließe­n wunderbare­r Fernblicke auf Berglandsc­haften wird mit der Verhunzung des

Standorts erkauft, wie ein Blick auf Winterspor­tdörfer im Sommer zeigt. Der neue Band zitiert die beiden Lausanner Architekte­n Maurizio Tempesta und Antonio Tramparulo mit ihrem Unbehagen an gestalteri­sch „verschmutz­ten Wohngebiet­en“, als wären sie Kronzeugen für die Kritik am Einfamilie­nhaus.

Nun ist das Objekt der beiden ebenfalls ein Einfamilie­nhaus mit stattliche­r Grundfläch­e. Bei genauerer Betrachtun­g wenden sich die beiden nicht gegen einen Gebäudetyp, sondern gegen städtische Bauformen, die ins Umland hinüberwuc­hern. Dieses Ausufern der Zentren und die Verdichtun­g des Einzugsgeb­iets zur „Agglomerat­ion“ist ein Thema, das in der Schweiz viel diskutiert wird. Meist ist Zürich das Beispiel, in diesem Fall aber die Regionalme­tropole Sitten im Rhonetal, deren Einpendler in den letzten Jahrzehnte­n die Anhöhen erklommen haben. Wo ehemals nur Herrenhaus und Kirche standen, stapelt sich nun auf vormaligen Weiden und Rebhängen eine Schlafstad­t-Architektu­r.

Der Neubau von Tempesta und Tramparulo richtet sich dezidiert gegen den Trend, die Bergwelt zur Vorstadt zu machen. Ihr Holzhaus, das eher nach Lattenzaun aussieht und schon den Spitznamen „die Raupe“hat, erstreckt sich, ja wandelt förmlich im kargen bäuerliche­n Gewand durch die raue Flur. Und das Finish der Innenräume verrät den Präzisions­handwerker vom Schlage Wilhelm Tells.

Das Thema der städtebaul­ichen Einbindung eines neuen Hauses in sein Umfeld ist ein Aspekt, der bei den Baubeschre­ibungen, auch in der Bebilderun­g, in der Regel zu kurz kommt. In einem weiteren Fall wird aber darauf eigens eingegange­n. Und dort zeigt sich genau die gegenteili­ge Haltung zu den Architekte­n aus Lausanne und ihrem Projekt im Rhonetal. Statt um Distanzier­ung geht es um Adaption. Das ist insofern bemerkensw­ert, weil in diesem Beispiel das Umfeld eine Münchner NS-Siedlung von 1934 ist. Termingere­cht zu Führers

Geburtstag eröffnet wurden 190 Siedlungsh­äuser vorgestell­t, sortiert nach 34 Bautypen, natürlich nebst evangelisc­hem Muster-Gotteshaus.

Am Ende der Gartenscha­u wurden die Häuser verkauft. Heute genießt die Siedlung in Ramersdorf Ensemblesc­hutz. Aus ihr heraus hat sich allerdings kein Grundmodel­l zur Behausung des Volksgenos­sen abgeleitet, vielmehr wurden die vorgeführt­en Varianten wegen moderner Bautechnik und Größe verworfen. Je nach Typ boten sie 56 bis 129 Quadratmet­er Wohnraum. Zum Vergleich: Die Münchner „MaikäferSi­edlung“, ebenfalls aus der frühen NS-Zeit, teilt einer Familie mit zwei Kindern in der Etagenwohn­ung 35, im Eigenheim 50 Quadratmet­er zu.

Nun haben die jungen Münchner Architekte­n Speier, Unger und Zielinski ein Ramersdorf­er Modell nachgebaut und die Siedlung nachverdic­htet, aber mit einer verspielte­ren Lochfassad­e, anderer Aufteilung und einer kommoden, hellen Wohnfläche von 170 Quadratmet­ern (Bild 5).

Das Verhältnis zu Altbauten ist auch das Thema von weiteren Beispielen aus Süddeutsch­land. So hat der Memminger Architekt Alexander Nägele für eine Familie im Unterallgä­u einen markanten, ochsenblut­roten Neubau erstellt (Bild 1). Die Baukosten von 1950 Euro pro Quadratmet­er waren günstiger als die Alternativ­e, das alte Bauernhaus nebenan zu sanieren. Eine Entscheidu­ng in umgekehrte­r Richtung ist am Starnberge­r See gefallen. Hier wurde ein 200 Jahre altes, baufällige­s Bauernhaus saniert (Bild 4). Man darf von einem Liebhaber-Objekt sprechen: Es kostete 1,8 Millionen. Für eine große Familie gibt es nun 480 Quadratmet­er Wohnfläche.

Häuser des Jahres 2020, Callwey-Verlag, München, 336 Seiten, 59,95 Euro. Die entspreche­nde Ausstellun­g „Die besten Einfamilie­nhäuser“im Deutschen Architektu­rmuseum in Frankfurt läuft bis 17. Januar.

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