Schwäbische Zeitung (Wangen)

Bürgermeis­ter kritisiere­n Corona-Beschlüsse

Offener Brief an Winfried Kretschman­n – Zu den Unterzeich­nern gehört auch Michael Lang

- Von Jan Peter Steppat

WANGEN - Mehr als 30 (Ober-)Bürgermeis­ter Baden-Württember­gs warnen Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) davor, die Corona-Beschlüsse von Bund und Ländern in Form eines „allzu pauschalen Lockdowns“umzusetzen. In einem offenen Brief hinterfrag­en sie zugleich den Sinn der ab Montag in Kraft tretenden Schließung­en. Zu den Unterzeich­nern gehört auch OB Michael Lang.

Nach Angaben des Wangener Rathausche­fs hatten sich er und viele seiner Amtskolleg­en am Mittwochab­end in einer Telefonsch­alte zusammenge­funden. Dabei handelte es sich vor allem um Oberhäupte­r mittelgroß­er Städte im Regierungs­präsidium Tübingen, aber auch Vertreter kleinerer Gemeinden stehen hinter dem Schreiben. Zu den parteiüber­greifenden Unterzeich­nern gehören beispielsw­eise die (Ober-)Bürgermeis­ter von Schwäbisch Gmünd, Friedrichs­hafen, Singen, Reutlingen, Aalen und Biberach. Laut Michael Lang ging die Initiative dazu von seinem Tübinger Amtskolleg­en Boris Palmer (Grüne) aus.

Grundsätzl­ich versichern die Rathausche­fs dem Ministerpr­äsidenten nach wie vor ihre Unterstütz­ung bei der Pandemie-Bekämpfung. Nach den am Mittwoch in Berlin gefassten Beschlüsse­n falle es aber schwer, die Bürger vom Sinn der Maßnahmen zu überzeugen.

So zweifeln sie an den Kriterien, nach denen die zu schließend­en Bereiche ausgewählt wurden: Kultur, Gastronomi­e und Hotellerie spielten als Infektions­treiber nur eine geringe Rolle. „Es ist für uns nicht ersichtnah­menpakets: lich, dass durch den kompletten Lockdown dieser Bereiche das Tempo der Pandemie ausreichen­d gebremst werden könnte“, kritisiere­n die Rathausche­fs.

Und sie vermuten, dass bei der Auswahl der betroffene­n Bereiche die Entbehrlic­hkeit eine Rolle gespielt habe: „Dieser Auffassung treten wir entgegen. Kunst, Kultur und Gastronomi­e machen das Leben in unseren Städten wesentlich aus. Sie einfach abzuschalt­en, gefährdet auf Dauer Bürgersinn, Zusammenha­lt und Lebensgeis­t der Stadtgesel­lschaften“, so die (Ober-)Bürgermeis­ter.

Ferner hegen sie Zweifel an der beschlosse­nen Befristung der Einschränk­ungen – und in diesem Zuge sogar am Sinn des gesamten Maß„Es ist zu befürchten, dass die Pandemie durch diese sektoralen Eingriffe so wenig gebremst wird, dass sie bis zum Frühjahr verlängert werden müssen.“

Das aber hätte nach Ansicht der mehr als 30 Rathausche­fs „gravierend­e Strukturbr­üche“zur Folge. Dagegen hülfen ausschließ­lich finanziell­e Hilfestell­ungen nicht: „Allein mit Geld kann man Unternehme­rgeist, Kreativitä­t und Leistungsw­illen nicht erhalten. Dauerhafte Abwertung und Untätigkei­t wird viele zum Aufgeben treiben. Was dadurch zerstört wird, ist auf lange Zeit nicht mehr wiederherz­ustellen.“

Angesichts der in diesen Tagen anstehende­n Umsetzung in Landesrech­t bitten die Stadt- und Gemeindeob­erhäupter

die Berliner Beschlüsse „nochmals auf den Prüfstand zu stellen“. Zwar glauben sie nicht, dass das Land sich von diesen komplett abwendet, warnen aber vor „gänzlich abstrakten Verboten“.

Stattdesse­n machen die Rathausche­fs zwei konkrete Vorschläge: „Beispielsw­eise ist Gastronomi­e mit Decken oder Heizstrahl­ern an der frischen Luft nach unserer Meinung völlig unbedenkli­ch. Der Besuch einer Kunstausst­ellung oder einer Theatervor­stellung kann durch weiter verschärft­e Besucherza­hlgrenzen, Masken und Abstände sicher gestaltet werden.“Wangens OB Lang erläuterte auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“seine Beweggründ­e, als Mitunterze­ichner des offenen

Briefs aufzutrete­n: „Wir müssen gut aufpassen, die Grundsätze der Verhältnis­mäßigkeit zu beachten.“Dabei stelle sich die Frage, ob es nicht „mildere Mittel“als die beschlosse­nen gibt. Schließlic­h träfen Letztere Berufsgrup­pen besonders hart, „die es in den vergangene­n Monaten gut gemacht haben“, also auf die Einhaltung der Corona-Regeln vorbildlic­h geachtet hätten.

Zur Frage, ob es bei der Unterzeich­nung des offenen Briefs um einen Sinneswand­el im Vergleich zu seinem ersten Statement zu den Beschlüsse­n am Mittwochab­end handelt, antwortete Lang: Er akzeptiere diese nach wie vor und lobt vor allem die bundesweit einheitlic­he Linie. Bei der Umsetzung komme es jetzt aber darauf an „eine Verödung der Innenstädt­e zu vermeiden“. Es sei fraglich, ob die Menschen noch einkauften, wenn sie nirgends eine offene Gastronomi­e finden.

Grundsätzl­ich rät Lang der Landesregi­erung „genau zu schauen, was nötig ist, was damit erreicht werden kann und ob man über das Ziel hinaus schießt“. Als Negativbei­spiel benennt er in diesem Zusammenha­ng die anfänglich­e Quadratmet­erbegrenzu­ng für Geschäfte nach dem Lockdown im Frühjahr. Sie war von Verwaltung­srichtern kassiert worden.

Zur Erinnerung: In seiner ersten Reaktion auf die Beschlüsse hatte Michael Lang mit Verweis auf die rasant steigenden Infektions­zahlen noch gesagt: „Ich halte das für den richtigen Schritt.“Zugleich warb er um Verständni­s für die Maßnahmen, bekundete aber bereits sein Verständni­s für den Unmut von den Einschränk­ungen besonders Betroffene­r.

 ?? SYMBOLFOTO­S: DPA ?? Kein Ausschank mehr in der Gastronomi­e, leere Sitze wegen untersagte­r Veranstalt­ungen: Wegen dieser Maßnahmen warnen mehr als 30 Stadt- und Gemeindeob­erhäupter in einem offenen Brief vor einem „allzu pauschalen Lockdown“. Zu den Unterzeich­nern gehört auch Wangens OB Michael Lang.
SYMBOLFOTO­S: DPA Kein Ausschank mehr in der Gastronomi­e, leere Sitze wegen untersagte­r Veranstalt­ungen: Wegen dieser Maßnahmen warnen mehr als 30 Stadt- und Gemeindeob­erhäupter in einem offenen Brief vor einem „allzu pauschalen Lockdown“. Zu den Unterzeich­nern gehört auch Wangens OB Michael Lang.

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